Frage an Volker Blumentritt von Heidrun J. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Guten Tag,
wie kürzlich wieder in der Tagespresse zu lesen, lehnt die deutsche Bevölkerung den Afghanistan-Krieg mehrheitlich ab. Zwei Drittel sind dagegen, und im Osten liegen die Zahlen, wenn sie separat angeben werden, noch deutlich darüber. In Jena dürften es über 80 % sein.
Sie haben immer wieder für die Verlängerung und Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan gestimmt. Wie begründen Sie diese Entscheidung?
Das Grundgesetz verbietet den Einsatz der Bundeswehr, wenn kein Verteidigungsfall vorliegt. Ist die Bundesrepublik Deutschland von Afghanistan angegriffen worden? Wenn nicht - warum stimmen Sie Verstößen gegen das Grundgesetz zu? Haben Sie kein Problem damit, daß Sie sich ganz offensichtlich im Widerspruch zu Ihren Wählern befinden? Werden Sie auch künftig für eine Verlängerung des grundgesetzwidrigen Krieges der Bundeswehr eintreten?
Glauben Sie, daß der Kriegseinsatz in Afghanistan die Sicherheitslage in Deutschland verbessert oder befürchten Sie Terroranschläge wie in Madrid?
Sehr geehrte Frau Jänchen,
für ihre Frage danke ich Ihnen und bitte Sie, meine verspätete Antwort zu entschuldigen.
Es ist nicht einfach, die einzelnen völkerrechtlichen Grundlagen und die Mandate der internationalen Bundeswehreinsätze (in Afghanistan) auseinanderzuhalten. Sie schreiben ganz richtig: „Das Grundgesetz verbietet den Einsatz der Bundeswehr, wenn kein Verteidigungsfall vorliegt.“ Gemäß Artikel 87a Absatz 1, Satz 1 GG hat die Bundeswehr die Aufgabe, Deutschland zu verteidigen („Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“), also das Land und seine Staatsbürger gegen Angriffe, Gefahren und bspw. politische Erpressung zu schützen.
Der Einsatz deutscher Streitkräfte in Afghanistan begründet sich auf dem ausgerufenen „Bündnisfall“ (Artikel 5 des NATO-Vertrages) nach den Geschehnissen des 11. September 2001. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) bezeichnete die Anschläge des 11. Septembers 2001 in den USA in seiner Resolution 1368 als: „Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit", und wertete die Anschläge als bewaffneten Angriff im Sinne des Artikels 51 der UN-Charta. Dieser gewährleistet das Recht auf Selbstverteidigung. Dies war die Grundlage der folgenden US-amerikanischen Militäraktionen „Operation Enduring Freedom“ sowie anderer Maßnahmen der Bündnispartner in Afghanistan. Damit hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) den Vereinigten Staaten ein Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta zu erkannt, der die Mitgliedsstaaten zum Beistand "verpflichtet". (Deutschland bzw. die deutsche Bundeswehr ist in den Streitkräfteplanungsprozess der NATO ebenso wie in die „standby arrangements“ der Vereinten Nationen (UN) eingebunden). Es handelt sich hierbei um eine Art "Verteidigungsfall" der NATO, bei dem ein Mitgliedsstaat der NATO angegriffen wurde.
Mit einem Bündnisfall regelt der NATO-Vertrag auch die Einsatzmöglichkeit der deutschen Bundeswehr bzw. der Streitkräfte aus anderen NATO-Mitgliedsstaaten. Die deutschen Streitkräfte werden dabei für friedenserhaltende und -sichernde Maßnahmen auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt, z.B. der Einsatz der internationalen Sicherheits-Unterstützungseinheit ISAF. An diesem Einsatz beteiligten sich im Folgenden auch die deutschen Streitkräfte an den Stabilisierungseinsätzen in Afghanistan .
Doch dies bedeutet nicht, dass der "Verteidigungsfall" nach dem deutschen Grundgesetz ausgelöst ist. Deutschland befindet sich nicht im Krieg und die deutsche Bundeskanzlerin ist nicht die Oberkommandierende. Die Bundeswehr nimmt an einer Militärmission in Afghanistan teil, die zuvor im Rahmen der UNO legitimiert wurde. Dabei handelt es sich um Stabilisierungseinsätze. Die Entscheidung zu diesen Einsätzen trägt der Bundestag, die die Verantwortung liegt beim Verteidigungsminister. Mit seinen Abstimmungen über den Einsatz der Bundeswehr verstößt der Bundestag bzw. der einzelne Abgeordnete, damit nicht, wie Sie schreiben, gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
Am Wiederaufbau des Landes Afghanistans sind mehr als 70 Staaten beteiligt, er findet unter schwierigen Bedingungen statt und ist durch die Gewalt der Taliban sowie anderer terroristischer Gruppen und Aufständischer von jeher gefährdet. Aus diesem Grund musste die Aufbauhilfe auch militärisch gesichert werden. Ein ziviler Aufbau des Landes, ohne militärische Präsenz, ist unrealistisch.
Ein sofortiger Rückzug der internationalen Streitkräfte zum jetzigen Zeitpunkt - wie von der Linkspartei gefordert - würde für Afghanistan nicht nur die Rückkehr des Taliban-Regimes und damit das Ende aller bisherigen Aufbaubemühungen und der bisher erfolgten zivilen Hilfe bedeuten. Es hieße auch, dass erneut hunderttausende Menschen, die in das Land zurückkehren konnten, wieder ins Exil flüchten müssen.
Wenn die afghanische Regierung die Sicherheit und Stabilität für ihre Bevölkerung und das Land garantieren kann, wird der ISAF- Einsatz beendet. Es erscheint mir wichtig, dass die ISAF auf Ersuchen der afghanischen Übergangsregierung und mit Genehmigung durch den UN-Sicherheitsrat ihren Auftrag weiterhin wahrnimmt und auch der Deutsche Bundestag das Mandat für den Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten mit breiter Mehrheit bis zum 15. Dezember 2009 verlängert hat. Dabei sehe ich im Einsatz der Bundeswehr nur ein Element des Engagements der internationalen Gemeinschaft. Es geht um die Unterstützung der afghanischen Regierung und die Verbesserung der Lebensbedingungen für die afghanische Bevölkerung. Es geht darum, Zukunftsperspektiven für die dort lebenden Menschen zu schaffen. Maßnahmen der zivilen Entwicklungszusammenarbeit sind dabei ebenso erforderlich, wie eine verstärkte Investition in die Arbeit und Durchführung von Friedensprojekten.
In der Hoffnung, Ihnen Ihre Fragen beantwortet zu haben, verbleibe ich
Mit freundlichen Grüßen,
Volker Blumentritt
Im Oktober 2006 hat sich die „Task-Force Afghanistan“ als Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion konstituiert. Mitglieder sind Abgeordnete aus dem Innen-, und Außenausschuss, dem Ausschuss für Menschenrechte, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie dem Verteidigungsausschuss. Zudem ist ein fraktionsübergreifender deutsch-afghanischer Kreis gegründet worden, der dazu beiträgt, die Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen in Afghanistan auszubauen. Ergebnisse der „Task-Force-Afghanistan“ und weitere Informationen zum Thema finden Sie http://www.spdfraktion.de/cnt/rs/rs_datei/0,,8761,00.pdf