Frage an Tobias Schulze von Holger G. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Hallo Herr Schulze,
einerseits finde ich viele Ziele im Wahlprogramm der Linkspartei sehr sympathisch, weil sie den Umverteilungsplänen zu Gunsten wohlhabender Bürger etwas entgegensetzen, andererseits frage ich mich aber auch wie ernstgemeint diese tatsächlich sind, z.B. 1400 Euro Mindestlohn.
Wie schätzen Sie Ihre konkreten Chancen ein, gegen den Widerstand der Reichen und wirtschaftlich Mächtigen in diesem Land Interessen für den Großteil der Bevölkerung durchzusetzen?
Die derzeitige Politik der rot-roten Koaltion aus PDS und SPD in Berlin macht mir da wenig Hoffnungen; ich kann da wenig Mut zur Auseinandersetzung mit vermeintlichen Sachzwängen oder einen Gegenentwurf zur allgemeinen Sparpolitik auf Kosten der sozial Schwachen erkennen.
Im Gegenteil einigen sich SPD und PDS meistens hinter verschlossener Tür ohne Beteiligung der Bevölkerung zu unsinnigen Sparbeschlüssen, z.B. sollen in der Behindertenbetreuung pro Jahr 2 Prozent eingespart werden und im Gegenzug sollen die Verwaltungsangestellten im Sozialamt, die das umsetzen sollen, als "Erfolgsprämie" 4 Gehaltsstufen besser bezahlt werden als bisher.
Wären Sie persönlich bereit, die Anfeindung von mächtigen Interessensverbänden, wie den Unternehmerverbänden, der Springer-Presse, RTL,SAT1 .... auszuhalten, um z.B. einen Mindestlohn durchzusetzen?
Wie wird sich ein Mindestlohn von 1400 Euro in unserem globalisierten Wirtschaftssystem auswirken? Werden dann noch mehr Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden oder lässt sich diese Entwicklung aufhalten?
Sehr geehrter Gamer,
vielen Dank für Ihre Frage. In der Anlage finden Sie meine Antwort.
Mit freundlichen Grüßen
Tobias Schulze
Sehr geehrter Herr Gamer,
die Durchsetzung politischer Interessen der größten Bevölkerungsteile, vornehmlich also Lohnabhängiger, Arbeitsloser und RentnerInnen, kann nicht nur durch eine starke Fraktion der Linkspartei im Bundestag erreicht werden. Aber eine solche Fraktion kann immer wieder alternative Konzepte entwickeln, Protest ins Parlament tragen und den Menschen wieder Perspektiven für das eigene Engagement geben. Dass dies wirkt, kann man an dem hektischen Linksschwenk von SPD und Grünen in diesem Wahlkampf sehen.
Der Kampf um Mindestlöhne stellt dabei einen gewichtigen Anteil dar. Hier kann sich die Linkspartei.PDS nicht nur auf die Forderungen der Gewerkschaften stützen, sondern auch auf die Erfahrungen unseren europäischen Nachbarn:
Vergleichbare Staaten wie Frankreich und Großbritannien besitzen Mindestlöhne und habe eine bei weitem bessere Inlandsnachfrage als Deutschland, sowie auch ein höheres Wirtschaftswachstum. Sechs der EU-Länder (Luxemburg, Niederlande, Belgien, Großbritannien, Frankreich und Irland) verfügen über einen Mindestlohn von über 1000 ¬ Brutto, insgesamt gibt es Mindestlöhne in 18 der 25 EU-Mitgliedsstaaten.
Ein Mindestlohn ist erst recht sinnvoll, vor dem Hintergrund, dass ab 2007 sich osteuropäische Arbeitnehmer innerhalb der EU frei bewegen dürfen.
Übrigens sind Mindestlöhne auch notwendig, um die Kaufkraft der Geringverdiener zu steigern. Da eine Binnenwirtschaft wie ein Kreislauf funktioniert, ist der Verdienst der einen die Einnahme der anderen.
Das Problem der Arbeitsplatzverlagerung ist nicht die Hauptursache für die Arbeitsplatzverluste in unserem Land. Die Hauptursachen sind:
-Effektivitätsgewinne machen Arbeitnehmer überflüssig
-Arbeitsplätze in kleinen Unternehmen (diese stellen 80% der deutschen Arbeitsplätze) gehen wegen mangelnder Binnennachfrage verloren
-sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse werden zugunsten von Scheinselbständigkeit und Billig- und 1-Eurojobs umgewandelt
- der öffentliche Sektor (Verwaltungen, Bildung, Gesundheit, Kultur) wird abgebaut
Das Potenzial bei uns liegt nicht darin, die billigsten Löhne zu haben, sondern zukunftsfähige Produkte, eine innovative und moderne Wissenschaftslandschaft und einen starken öffentlichen Sektor mit den Zukunftsbranchen Gesundheit, Kultur, Nahverkehr, Umwelt.
Zugleich möchte ich auch die Diskussion darüber anregen, wie tendenziell eine neue Organisation und Verteilung von Arbeit und Einkommen realisiert werden kann. Das Konzept eines Grundeinkommens und die Förderung bezahlter Ehrenämter ist da aus meiner Sicht ein guter Ansatz.
Anfeindungen von Springer und den Unternehmensverbänden nehme ich gern in Kauf, wenn ich Politik im Sinne der großen Mehrheit der Bevölkerung vertrete.
Der Senat aus SPD und Linkspartei hat die Regierung unter objektiv schlechten Bedingungen angetreten. Wir geben etwa 10% unseres Haushaltes für Zinsen aus und wollen beim Bundesverfassungsgericht erreichen, dass der Bund und die anderen Länder einen Großteil der Altschulden aus der Regierungsperiode Diepgen übernehmen. Dies würde uns einiges an Erleichterung bringen.
Meine Position zur Strategie der Landespartei in der Frage der Haushaltspolitik habe ich unter www.pds-berlin.de/partei/deba/2004/040902schul.html ausführlich dargelegt. Ein paar Kernpunkte zur zukünftigen Strategie unserer Partei:
- wir müssen den Steuersenkungswettlauf auf Bundesebene beenden, dieser dreht den Bundesländern, auch Berlin, die Luft ab. Allein die letzte Stufe der Steuerreform kostet das Land 800 Mio. Euro jährlich.
- wir müssen in unsere Stärken - Bildung, Wissenschaft, Kultur - investieren
- wir müssen uns stärker um die Kieze kümmern, die wirtschaftlich schwach sind
Zur Frage der „verschlossenen Türen“: Die Linkspartei hat als erste im Bezirk Lichtenberg die Aufstellung eines Bürgerhaushalt initiiert. Die Bürger können also per Votum Schwerpunkte und Eckwerte für die Haushaltsführung beschließen. Dies ist ein Beispiel, wie wir die Teilhabe von BürgerInnen stärken.
Mit freundlichen Grüßen
Tobias Schulze