Frage an Sylvia Pantel von Simone P. bezüglich Recht
Sehr geehrte Frau Pantl,
Schon länger beschäftige ich mich mit der Frage, warum die Opfer einer Handlung, bei der sich der Täter zuletzt selbst tötet, der sogenannte erweiterte Suizid, nicht in der Tötungsstatistik als Mord bzw Totschlag ausgewiesen wird. Wieviele Menschen sterben jährlich auf diese Weise? Was ist mit den Taten derer, die für unzurechnungsfähig erklärt werden? WAs ist mit den Opfern, in denen der Täter tot ist? Die Staatsanwaltschaft führt ja keine Ermittlungen gegen Tote. Sind die 149 Getöteten des German Airwings Pilotenselbstmords als Opfer eines Tötungsdelikts anerkannt worden?
Ich hoffe, dass Sie sich Zeit nehmen für die Beantwortung meiner Fragen und danke Ihnen im voraus
Simone Pöpl
Sehr geehrte Frau Pöpl,
ich danke Ihnen für Ihre Nachricht!
Zunächst einmal möchte ich zum Ausdruck bringen, dass ich die Entscheidung des Piloten des Germanwings Fluges sich selbst das Leben zu nehmen und dabei unbeteiligte und unschuldige Menschen mit in den Tod zu reißen aufs Schärfste verurteile, unabhängig davon ob er dies bewusst oder unbewusst tat.
Tötungsdelikte mit anschließendem Suizid des Täters stellen eine sehr schwere und komplexe Form der interpersonellen Gewalt dar, die sich überwiegend in Partnerschaften und Familien ereignet, und die in Deutschland bislang weder erfasst noch systematisch untersucht wurde. Das Max-Planck-Institut hat in einem achtjährigen Projekt versucht eine auf amtlichen Quellen und Medienberichten beruhende Vollerhebung dieser Fälle in Deutschland und weiteren europäischen Ländern durchzuführen. Diese Analyse wurde interdisziplinär und auf mehreren Ebenen angelegt. So wurde auf der Individualebene eine kriminalpsychologische Untersuchung, die sich auf justizielle Akten und auf Interviews mit inhaftierten Tätern mit Suizidversuch stützt, durchgeführt und analysiert. Auf der Makroebene erfolgte eine soziologische Untersuchung zu den sozialen Kontexten und Normen, die die Wahrscheinlichkeit dieser Gewaltform erhöhen. Beide Perspektiven sollten das Ziel verfolgen, die psycho-sozialen Ursachen dieser Gewaltform näher zu verstehen. Nach dieser Untersuchung des Max-Planck-Instituts wird der erweiterte Suizid, zumindest in den Fällen, die sich in Partnerschaften und Familien ereignen, in der Kriminalstatistik als Tötungsdelikt aufgeführt. Jedoch werden Tötungsdelikte mit anschließendem Suizid des Täters als komplexe Gewaltereignisse in offiziellen Statistiken nicht gesondert erfasst. Dies ist auch der Grund, weshalb in Deutschland und in anderen europäischen Ländern die genaue Anzahl der Fälle von erweiterten Suizid nicht statistisch bekannt sind. Studien gehen von jährlich zwischen 40 bis 120 Fällen mit teilweise multiplen Opfern (überwiegend Frauen und Kinder) aus. Ferner deutet sich an, dass Täter erweiterten Suizids tendenziell eine geringere kriminelle Vorbelastung und einen höheren Sozialstatus aufweisen als Täter sonstiger Tötungsdelikte, was wiederrum viele Fälle als überraschend und unvorhersehbar erscheinen lässt und für die Angehörigen der Opfer nochmal verstärkend schrecklich ist.
Bei einem Pilotensuizid geht man davon aus, dass der Pilot gezielt einen Flugunfall herbeiführt, um sich selbst zu töten. Zu erwähnen ist jedoch, dass eine eindeutige Abgrenzung zwischen technischem oder menschlichem Versagen und einem absichtlich herbeigeführten Flugunfall nicht immer möglich ist. Die meisten Suizide wurden in den vergangenen Jahrzehnten mit kleineren Flugzeugen der allgemeinen Luftfahrt durchgeführt, meistens ohne Passagiere an Bord. Leider gibt es auch Fälle mit Passagiermaschinen, so wie auch im Fall der Germanwings Maschine 4U9525 am 24. März 2015. Hierbei muss jedoch näher der genaue Grund der Selbsttötung begutachtet werden. Diese können jedoch sehr vielfältig sein, was eine genauere statistische Unterscheidung schwieriger macht. So muss beispielsweise bei Suiziden von Terroranschlägen berücksichtigt werden, dass höhere politische Ziele verfolgt werden sollen (z.B. am 11. September 2001 beim Anschlag auf das World Trade Center in New York). Im Vergleich dazu fällt in einem anderen Fall des Suizids der Betroffene in eine subjektiv ausweglose Situation, aus dieser er heraus handelt. Beide Fälle werden jedoch unter der Kategorie Flugunfälle erfasst. Die Federal Aviation Administration gab im Jahre 2014 eine Studie heraus, wonach Flugunfälle durch Pilotensuizid in den Jahren 2003 bis 2012 untersucht wurden, die sich in den USA vollzogen haben. Dabei wurde festgestellt, dass in den USA in dem genannten Zeitraum insgesamt 8 von 2758 Flugunfällen der Allgemeinen Luftfahrt mit Todesopfern durch Pilotensuizid verursacht wurden. In der kommerziellen Luftfahrt gab es zwischen 19080 und 2015 sieben Flugunfälle, die zumindest mutmaßlich auf Pilotensuizid zurückgeführt werden, hierunter fällt auch der Germanwings Flug 4U9525.
Für die Anerkennung eines Tötungsdelikts, bzw. in diesem Fall eines heimtückischen Mordes, bedarf es einer Arg- und Wehrlosigkeit eines Opfers. Bei den ums Leben gekommenen Passagieren des Germanwings Fluges 4U 9525 kann meiner Einschätzung nach eindeutig von Arglosigkeit die Rede sein, da wohl keiner der sich an Bord befundenen Menschen, zumindest bis zu den letzten Minuten des Fluges, ahnten, dass sie sterben würden. Außerdem müsste der Täter hierzu die Ahnungslosigkeit der Opfer bewusst ausgenutzt haben. Die Frage zu den wahrhaftigen Motiven des Piloten, ob er plante "nur" sein eigenes Leben zu nehmen oder bewusst und willentlich die Passagiere mit in den Tod reißen wollte wird jedoch wohl aufgrund mangelnder Erkenntnisse nie eindeutig beantwortet werden können. Aus diesem Grund kann wohl auch keine endgültige Entscheidung darüber getroffen werden ob es sich hier um ein Tötungsdelikt handelt. Das Bundessozialgericht geht jedoch davon aus, dass bei dem Täter auf vorsätzliches Handeln geschlossen werden kann. Auch die französischen Ermittler schließen in ihrem Bericht auf ein vorsätzliches Handeln seitens des Piloten. Unabhängig davon stehen den Angehörigen der Opfer gewisse Schadensersatzansprüche zu. Nach den gesetzlichen Rahmenbedingungen des Opferentschädigungsgesetzes und des Bundesversorgungsgesetzes stehen den Angehörigen gewisse finanzielle Hilfeleistungen zu die der Staat übernimmt, wie z.B. die Überführungskosten und die Kosten für die Bestattung. Im Opferentschädigungsgesetz ist genau definiert welche Ansprüche Hinterbliebene in Bezug auf Versorgung und Schadensersatzansprüche haben. Die Ansprüche aus dem Opferentschädigungsgesetz unterscheiden sich teilweise deutlich. Bei Witwen, Hinterbliebenen aus eingetragenen Lebenspartnerschaften und Waisen kommen Hinterbliebenenrenten in Frage. Zusätzlich kann es im Bedarfsfall ergänzende Hilfsansprüche geben. Eltern von bei einem Flugzeugabsturz gestorbenen Kindern haben unter Umständen Ansprüche auf Rentenzahlungen. Bei den Hinterbliebenen der Flugbegleiter und des Piloten greift die Unfallversicherung an Stelle des Opferentschädigungsgesetzes. Zusätzlich zu diesen Leistungen greift für den Luftverkehr noch das Montrealer Abkommen, das bei technischen Fehlern den Schadenersatz festlegt bzw. deckelt.
Die 150 Opfer des Germanwings Absturzes, davon die 72 Personen mit deutschen Anschriften sind noch Teil des Todesermittlungsverfahrens der internationalen Behörden, weshalb diese noch nicht in der polizeilichen Kriminalstatistik vermerkt sind. Dies kann erst nach Abschluss aller kriminalpolizeilichen Ermittlungen geschehen.
Wie Sie sehr richtig gesagt haben, kann die Staatsanwaltschaft keine Ermittlungen bzw. keine Anklage gegen einen Toten durchführen, dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass nicht versucht wird die genauen Umstände des Absturzes und mögliche Folgen und Rückschlüsse bis hin zu Fehlverhalten einzelner Personen oder Firmen aufzuklären.
Ich hoffe, dass ich Ihnen Ihre Fragen bestmöglich beantworten konnte.
Mit freundlichen Grüßen,
Sylvia Pantel