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Frage von Markus B. •

Frage an Sigmar Gabriel von Markus B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Sigmar Gabriel,

kennen Sie das GG? Warum wurde der Artikel 23 vom 23.05.1949
"Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In den anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen." Gestrichen? Kein GG mehr...

Und was sagen sie zum Artikel 146?
Art 146 Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Mit freundlichen Grüßen
Markus Becker

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Becker,

vielen Dank für Ihre Frage.

Im Parlamentarischen Rat hatten die Mütter und Väter die Vorstellung, dass das GG entweder durch eine gesamtdeutsche Verfassung abgelöst werden sollte (Art. 146 GG), oder durch einen Beitritt mit Übernahme des Grundgesetzes (Art. 23 GG). Die friedliche Revolution von 1989 und die Überwindung der deutschen Teilung warfen dann die Frage auf, ob es Zeit für eine neue, gesamtdeutsche Verfassung nach Artikel 146 GG sei. Entsprechende Forderungen gab es durchaus auch in der SPD, insbesondere von Seiten der ostdeutschen Sozialdemokratie, die als Teil der DDR-Bürgerrechtsbewegung für eine Vereinigung auf Augenhöhe eintrat. Wie Sie wissen, erfolgte die Wiedervereinigung aber letztlich auf anderem Wege, nämlich durch Beitritt nach Art. 23 GG alter Fassung.

Während sich die Union nach dem Fall der Mauer für die Abschaffung der Schlussbestimmung des Art. 146 GG stark machte, wollte die SPD dem deutschen Volk weiterhin die volle verfassungspolitische Selbstbestimmung ausdrücklich sichern. Da die Anpassungen des Grundgesetzes im Zuge der Deutschen Einigung nur im Parteienkonsens mit Zwei-Drittelmehrheit möglich waren, kam es zu einem Kompromiss: Art. 146 wurde nicht abgeschafft. Stattdessen fügte man 1990 den von Ihnen zitierten Relativsatz ein. Seitdem lautet die Schlussbestimmung: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."

Aktuell sind wir Zeugen der Diskussion, ob die Verzahnung europäischer und nationaler Politik eine neue Qualität erreicht, für die das Grundgesetz in seiner heutigen Form als Legitimationsgrundlage nicht mehr ausreicht. Es entsteht die Frage, welche verfassungsrechtliche und – was ebenso wichtig ist – politische Legitimationsgrundlage erforderlich ist, wenn zentrale staatlicher Souveränitätsrechte (insbesondere Teile des Budgetrechts) auf die europäische Ebene übertragen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu im sogenannten „Lissabon-Urteil“ klargemacht, dass im Falle eines Identitätswechsels der Bundesrepublik Deutschland eine neue Grundentscheidung des deutschen Volkes erforderlich werden könnte. Dafür bilde im geltenden Verfassungsrecht Art. 146 eine tragfähige Grundlage.

Unabhängig von der rechtlichen Bewertung durch das Bundesverfassungsgericht bin ich jedenfalls politisch der Ansicht, dass man den Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit eröffnen sollte, sich direkt und nicht nur zum europäischen Integrationsprozess in Volksabstimmungen zu äußern. Das ist für mich nicht nur ein Gebot demokratischer Legitimation. Es berührt vor allem die Grundfrage, ob wir die Europäische Einigung als ein politisches Vorhaben seiner Bürgerinnen und Bürger betrachten. Ich sage dazu ganz eindeutig: Ja!

Mit freundlichen Grüßen
Sigmar Gabriel