Frage an Sigmar Gabriel von Thilo M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Gabriel,
anlässlich der aktuellen Politikaufgabe Wahlrechtsrechtsreform habe ich einmal die 20 bevölkerungsreichsten Staaten mit ihren jeweiligen Parlamentsgrößen zusammen gestellt, siehe Anhang
Deutschland ist danach bevölkerungsmäßig der vierzehntgrößte Staat der Welt.
Der Bundestag liegt aber mit 620 Bundestagsabgeordneten auf Rang 2 der größten Parlamente weltweit, nur China hat noch mehr Abgeordnete.
Das hat mich dann doch etwas überrascht.
Das löst bei mir folgende Fragen aus:
1. Gibt es Ihrer Meinung nach einen Zusammenhang von Abgeordnentenanzahl und Qualität der Demokratie? Wenn ja, welchen?
2. Gibt es Ihrer Meinung nach einen Zusammenhang von Abgeordnetenanzahl und Qualität der Politik? Wenn ja, welchen?
3. Gibt es Ihrer Meinung nach einen Zusammenhang von Abgeordnetenanzahl und Stärke bzw. Umfang der Probleme, die ein Staat besitzt?
4. Wie ist Ihre Meinung zur richtigen Anzahl von Bundestagsabgeordenten?
a) Sollte sie erhöht oder verringert werden? Wenn ja, welche Anzahl von Bundestagsabgeordneten wäre aus Ihre Sicht die richtige, und warum?
b) Oder ist die gegenwärtige Anzahl von Bundestagsabgeordneten aus Ihrer Sicht gerade richtig, wenn ja, warum?
Ich würde mich freuen, wenn Sie mir meine Fragen beantworten würden!
Mit freundlichen Grüßen
Thilo Mühlberger
Anhang:
Staat Einwohner in Mio. - Abgeordnetenanzahl
1. China 1.330 - ca. 3000 Volkskongress
2. Indien 1.210 - 550
3. USA 310 - 435
4. Indonesien 242 - 550
5. Pakistan 190 - 342
6. Brasilien 187 - 513
7. Bangladesch 156 - 330
8. Nigeria 152 - 360
9. Russland 134 - 450 Duma
10. Japan 126 - 480
11. Mexiko 112 - 500
12. Philipinen 99 - 250
13. Äthiopien 88 - 548
14. Deutschland 81 - 620 Bundestag
15. Ägypten 80 - 454
16. Türkei 78 - 550
17. Iran 76 - 290
18. Kongo 70 - 500
19. Vietnam 70 - 493
20. Thailand 67 - 480
Quelle: Wikipedia
Sehr geehrter Herr Mühlberger,
vielen Dank für Ihre zahlreichen Fragen.
Tatsächlich bin ich der Meinung, dass es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Abgeordneten und der "Qualität" einer Demokratie gibt. Das liegt vor allem an der Art und Weise der Repräsentation. Zum einen ist es die Aufgabe eines bzw. einer Abgeordneten, seinen/ihren Wahlkreis zu vertreten und die Interessen und Wünsche der Menschen vor Ort in seine/ihre politische Arbeit einzubringen (auch wenn sie/er als AbgeordneteR natürlich der gesamten deutschen Bevölkerung verpflichtet ist).
Viele Interessen von Bürgerinnen und Bürgern ergeben sich aus ihren konkreten Lebensumständen und den Gegebenheiten der Region, in der sie leben. Bewohner ländlicher Regionen haben mit anderen Problemen zu kämpfen als Großstädter. Damit ein Abgeordneter sich angemessen mit diesen Interessen auseinandersetzen kann, sollte der Wahlkreis nicht zu groß sein. Abgeordnete sollten als Politikvermittler und Repräsentanten des politischen Systems auftreten. Viele Bürger wollen sich mit ihrem Abgeordneten unterhalten und sich mit Fragen und Vorschlägen an sie/ihn wenden. Es ist aber jetzt schon so, dass man als Mitglied des Bundestages oft mehr Anfragen für Termine hat, als verfügbare Zeit. Wären Wahlkreise noch größer, bekämen entweder weniger Menschen die Chance, ihren Abgeordneten zu sehen oder es wären unpersönliche Großveranstaltungen. Für die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit der parlamentarischen Demokratie wäre dies sicherlich eher abträglich.
In der 17. Wahlperiode repräsentiert jeder der 299 Wahlkreise ca. 250.000 Bürgerinnen und Bürger, also in etwa die Einwohnerzahl einer mittleren Großstadt (wobei auch Nicht-Wahlberechtigte in die Zahl mit einbezogen sind). Das ist auch im internationalen Vergleich eine durchaus anspruchsvolle Größenordnung.
Abgeordnete haben die Aufgabe, Regeln für eine sehr komplexe Welt aufzustellen. Dies hat seit jeher dazu geführt, dass sich einzelne Abgeordnete spezialisiert haben, also sich z.B. schwerpunktmäßig mit Gesundheitsfragen auseinandergesetzt haben. Dieser Komplexität trägt der Bundestag mit seinem Ausschusssystem Rechnung, indem es für die verschiedenen Politikbereiche wie z.B. Umwelt, Haushalt oder Verteidigung verschiedene Ausschüsse gibt; aktuell 22. Aber auch in den Ausschüssen teilen sich die Aufgaben meist nochmal auf, da auch ein Thema wie beispielsweise der Haushalt zu groß sein kann, um von einem einzelnen Abgeordneten bearbeitet zu werden. Deswegen ist es z.B. sinnvoll, wenn sich einzelne Abgeordnete auf bestimmte Bereiche des Haushalts spezialisieren, um so auch eine effektive Kontrolle der Regierung sicherzustellen. Wenn es weniger Abgeordnete gibt, dann muss der Einzelne auch mehr Aufgaben und Themenbereiche abdecken, worunter naturgemäß die fachliche Spezialisierung der Arbeit leiden muss.
Mit Zustimmung meiner Partei ist der Deutsche Bundestag im Jahr 2002 maßvoll verkleinert worden, indem die Zahl der Wahlkreise um 29 auf 299 verringert wurde. Dem war 1995 eine Parlamentsreform voraus gegangen. Ich halte diesen historischen Kompromiss weiterhin für richtig. Die Argumente, die damals eine Rolle gespielt haben, können Sie im seinerzeitigen Bericht des Ältestenrates auf Bundestags-Drucksache 13/1803 (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/018/1301803.pdf) nachlesen.
Mit freundlichen Grüßen,
Sigmar Gabriel