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Frage von Klaus G. •

Frage an Sigmar Gabriel von Klaus G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter H.Gabriel,

Die SPD schießt sich selbst ab...endlich sagt mal jmd. was viele denken und nutzt das Recht der Freien Meinungsäußerung. Darauf sollten wir stolz sein. Aber die Politiker dieser Partei drehen sich wie die Fähnchen im Wind - immer schön ducken und dann noch auf Kosten der deutschen Bevölkerung den Staat in den Ruin treiben. Deutsche Kultur gibt es ja kaum noch. Kirchen werden geschlossen - Moscheen gebaut. Transferleistungen fliessen en masse. Aber für deutsche Kindergärten, Schulen und Univesitäten gibt es kein Geld. Ich bin froh, dass endlich mal jmd. den Mund aufmacht, der auch gehört wird.

Meine Fragen: 1. Warum wollen Sie H. Sarrazin aus der SPD ausschliessen?
2. Ist unsere verfassungsmäßige Meinungsfreiheit in Gefahr?
3. Wie können Sie mir erklären das bei Umfragen die Äußerungen von Herrn
Sarrazin im Volk volle Zustimmung erhalten?

Mit freundlichem Gruß

Klaus Grauer

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Antwort von Sigmar Gabriel:

Sehr geehrter Herr Grauer,

ich danke Ihnen für Ihre E-Mail zum Thema Thilo Sarrazin. Ich möchte auch Ihre Fragen beantworten, wie ich es auch bereits auf die Fragen von Herrn Fricke vom 3. September 2010 getan habe. Gleichzeitig empfehle ich Ihnen meinen Namensbeitrag in der "Zeit" zum Thema: http://www.zeit.de/2010/38/SPD-Sigmar-Gabriel

Frage 1: Ich bin für das Parteiordnungsverfahren gegen Thilo Sarrazin, weil er neben den vielen wichtigen Integrationsfragen auch eine Unterscheidung fordert, die den Menschen in sozioökonomisch wertvollem und weniger wertvollem Leben einteilt. Er verbindet in seinem Buch soziale Fragen mit der Unterscheidung von genetisch erwünschtem und unerwünschtem Leben. Genau das nie wieder zu tun, nie wieder soziale Fragen mit genetischen zu verbinden, ist eine der wichtigsten Lehren aus der Geschichte Deutschlands und Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Frage 2: Nein!

Frage 3: Ich kann es mir nur so erklären, dass viele vielleicht der von Ihnen angesprochenen Bürgerinnen und Bürger das Buch nur als Vorabdruck gelesen haben. Sein Buch besteht aber eigentlich aus zwei Büchern, das sollte man nicht übersehen. In einem wird Kritik am Integrationsversagen geübt, und es werden auch Vorschläge gemacht, wie man dem entgegentreten kann. Manches davon mag umstritten sein, aber nichts davon wäre ein Grund, ein Parteiordnungsverfahren einzuleiten. Aber im zweiten Teil seines Buches fordert er eine Unterscheidung zwischen - so drückt er sich aus - sozioökonomisch wertvollem und in der Konsequenz sozioökonomisch weniger wertvollem Leben. Thilo Sarrazin verbindet in seinem Buch soziale Fragen mit der Unterscheidung von genetisch erwünschtem und unerwünschtem Leben.

Und die Politik, also der Staat, soll Maßnahmen ergreifen, um das sozial und genetisch Gewünschte zu fördern und das Unerwünschte zu reduzieren oder mindestens in ein besseres Verhältnis zu bringen. Das hatten wir schon einmal in Europa. In Schweden zum Beispiel wurden 60.000 Menschen bis in die 1970er Jahre hinein sterilisiert, weil sie zum Teil als asozial galten und ihre Fortpflanzung nicht erwünscht war. Bitter für uns: Es waren schwedische Sozialdemokraten, die dafür die Verantwortung getragen haben.

Und ganz besonders schrecklich wurde es in Deutschland. Denn die Nazis haben das pervertiert und sich übrigens auf diese bürgerliche und durchaus auch sozialdemokratische Debatte, die es Anfang des 20. Jahrhunderts gab, bezogen. Das Grundgesetz ist gegen die Verbindung von sozialen mit genetischen Fragen geschrieben worden.

Carlo Schmid, einer der großen sozialdemokratischen Intellektuellen und Mitverfasser des Grundgesetzes, schrieb - den Nürnberger Ärzteprozess vor Augen - folgendes: "Können wir denn bestreiten, dass all das, was den Nationalsozialismus und alles andere, das die Würde der Menschenwelt verkehrte, nur deswegen möglich wurde, weil wir uns alle an die falsche Lehre gewöhnt hatten (...) (Der Lehre,) der Mensch sei nicht für sich ein Wert, sondern nur (...)für bestimmte - vor allem aus der Staatsraison geschöpfte - Zwecke (...)? Weil wir uns nicht geschämt haben, in ihm (nur) ein ´Material´ zu sehen, (...) ein Wesen ohne eigenen Sinn, etwas nur Zweckdienliches?"

Genau das nie wieder zu tun, nie wieder soziale Fragen mit genetischen zu verbinden, ist eine der wichtigsten Lehren aus der Geschichte Deutschlands und Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ich weiß nicht, wie wenig man das Buch von Thilo Sarrazin gelesen haben muss, um die dort erhobene Forderung nach staatlicher Unterscheidung zwischen gewünschtem oder unerwünschtem Leben zu übersehen. Oder wie wenig man von den Folgen der Verirrungen des 20. Jahrhunderts wissen muss, um ein solches Buch überhaupt zu schreiben. Ich gebe freimütig zu: Ich halte die Wiederbelebung der Eugenik für eine unglaubliche intellektuelle Entgleisung.

Mit der SPD verbindet sich seit 147 Jahren ein aufgeklärtes und emanzipatorisches Bild vom Menschen und seinen Entwicklungsmöglichkeiten. Daran dürfen wir keinen Zweifel aufkommen lassen.

Mit freundlichen Grüßen

Sigmar Gabriel