Frage an Sigmar Gabriel von Bernd K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Gabriel!
Ich möchte die von Herrn Seitz angesprochenen Fragen noch ergänzen: Was spricht eigentlich im Jahre 2010 noch dagegen, den Bundespräsidenten direkt vom Souverän wählen zu lassen? Bonn ist nicht Weimar und Berlin ist es erst recht nicht. Das deutsche Volk ist politisch volljährig geworden, was sich u.a. darin dokumentiert, dass Regierungen aller Schattierungen ggf. einfach abgewählt werden. Sie haben das ja selbst als Opfer der Agenda 2010 erlebt und sogar die Bayern haben die CSU inzwischen das Fürchten gelehrt.
Für dringend reformbedürftig halte ich auch die Kandidatenkür innerhalb der Parteien. Insbesondere die Aufstellung der Landeslisten ist für politisch mündige Bürger ein stetes Ärgernis. Werden Sie sich dafür einsetzen, dass wir so etwas wie die amerikanischen primaries bekommen? Übergangsweise könnte ein erster Schritt auch darin bestehen, den Wahlberechtigten durch Kumulieren und Panaschieren ihrer Stimmen die Möglichkeit zu geben, die von den Parteien vorgegebene Reihenfolge der Kandidat(inn)en zu verändern. Bei den Kommunalwahlen klappt das schon prima! Was wäre wohl beispielsweise aus Ihrer Parteifreundin Ulla Schmidt geworden, wenn die Wähler ihren Listenplatz hätten verändern können? Wieviel besser könnten Ihre Parteifreunde in Hamburg dastehen, wenn es die Möglichkeit gegeben hätte, das dortige Funktionärsgeklüngel um Herrn Kahrs durch unverbrauchte, ideenreiche und jüngere Kandidat(inn)en zu ersetzen? Die SPD hätte dort vermutlich nicht drei von vier Direktmandaten verloren und es hätte nicht eines Dutzends verlorener Wahlen und der Gründung einer neuen linken Partei bedurft, bis irgendjemand irgendetwas bei der SPD gemerkt hätte.
Haben Sie übrigens eine Erklärung dafür, warum die Grünen in der Öffentlichkeit viel eher als Opposition wahrgenommen werden als die SPD?
Mit freundlichen Grüßen
Bernd Koch
Sehr geehrter Herr Koch,
ich danke Ihnen für Ihre zahlreichen Fragen an mich. Gerne möchte ich Ihnen antworten.
Ich bin gegen eine Direktwahl des Bundespräsidenten. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem Scheitern der Weimarer Republik dem Bundespräsidenten nicht die gleiche herausgehobene Stellung wie dem früheren Reichspräsidenten zugestanden. Der Bundespräsident übernimmt deshalb hauptsächlich repräsentative Aufgaben: Er ernennt u.a. den Bundeskanzler (Artikel 63 GG), vertritt die Bundesrepublik völkerrechtlich (Artikel 59 GG) und übt im Einzelfall das Begnadigungsrecht aus (Artikel 60 GG). Weitere Informationen zur verfassungsrechtlichen Stellung des Bundespräsidenten finden Sie unter http://bundespraesident.de/Amt-und-Funktion/-,12201/Verfassungsrechtliche-Grundlag.htm
Diese eingeschränkte politische Macht drückt sich auch in der indirekten Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung aus. Eine Direktwahl des Bundespräsidenten - der dann neben dem Bundestag das einzige direkt gewählte Verfassungsorgan wäre - stünde im Missverhältnis zu seiner relativ geringen politischen Macht. Der Bundespräsident steht darüber hinaus über den Parteien und ist zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet. Diese Stellung wäre in meinen Augen aber gefährdet, wenn ein Wahlkampf - wie etwa bei der Bundestagswahl - um das Amt des Bundespräsidenten stattfinden würde.
Aus diesen Gründen lehne ich eine Direktwahl des Bundespräsidenten ab. Zu Ihrer Information möchte ich darauf hinweisen, dass zur Einführung einer Direktwahl des Bundespräsidenten der Deutsche Bundestag mit einer Zweidrittelmehrheit Artikel 54, Absatz 1 des Grundgesetzes ändern müsste.
Zum zweiten Thema: Wir werden zum Bundesparteitag 2011 unsere Vorschläge für eine Parteireform vorstellen. Zurzeit sind wir in einem sehr intensiven Diskussionsprozess und nehmen gerne Ihre Ideen auf. Ich danke Ihnen dafür, Herr Koch.
Zum dritten Thema: Ich kann Ihre Aussage, dass die Grünen als Oppositionspartei besser wahrgenommen werden, nicht teilen. Das können Sie sich sicher vorstellen. Wir Sozialdemokraten sind auf einem guten Weg. Nach der deutlichen Wahlniederlage bei der Bundestagswahl 2009 haben wir uns stabilisiert und stellen uns jetzt neu auf. Und die schwarz-gelbe Bundesregierung macht es uns zurzeit auch leicht: mit Merkels geheimen Atomdeal, der unsozialen Gesundheitsreform von Rösler und dem Sparpaket, das bei den Armen kürzt und die Reichen schont. Das haben wir und das werden wir auch zukünftig offensiv und lautstark betonen. Ich bin sehr glücklich, dass uns die Gewerkschaften und viele andere Verbände dabei unterstützen.
Ich hoffe, dass ich Ihre Fragen umfangreich beantwortet habe.
Mit freundlichen Grüßen
Sigmar Gabriel