Wann wird die Gesundheit von Kindern genauso geschützt wie die von Erwachsenen?
Heute hat der Bundestag angesichts der ins Unermessliche steigenden Infektionszahlen die Präsenzpflicht im eigenen Haus aufgehoben. Dies dient vermutlich der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz der Abgeordneten, von denen jede und jeder, die das wünschen, inzwischen geboostert sind.
Gleichzeitig werden in vielen Bundesländern, darunter Bayern, Kinder gezwungen, sich täglich einem sehr hohen Ansteckungsrisiko auszusetzen. Von den Kindern unter 12 Jahren haben die meisten noch keine einzige Impfdosis erhalten, es gibt in den wenigsten Klassenzimmern Luftfilter und Masken werden nicht durchgängig getragen.
Es entsteht der Eindruck, dass die Gesundheit von Abgeordneten mehr wert ist als die Gesundheit von Kindern. Auch, wenn das Risiko für einen schweren Verlauf mit Krankenhausbehandlung bei Kindern im Promillebereich liegt, wissen wir noch viel zu wenig über die Langzeitfolgen einer Infektion, um sie bei einer ganze Generation in Kauf zu nehmen.
Sehr geehrte Fragestellerin,
ich habe selbst vier Kinder, eines davon in einer Altersgruppe, für die es keinen zugelassenen Impfstoff gibt.
Täglich bin ich also mit den realpolitischen Auswirkungen politischen Handelns konfrontiert.
Sie beziehen sich in Ihrer Frage auf eine Regelung zur Präsenzpflicht im Deutschen Bundestag. Diesem gehöre ich nicht an. Ich habe auch keinerlei Einfluss auf die Regeln, die der Ältestenrat des Deutschen Bundestages beschlossen hat. Möglicherweise ist Ihnen dies bekannt, und Ihre Frage bezieht sich nicht auf den Deutschen Bundestag, sondern auf meine persönliche Haltung zur Präsenzpflicht an Schulen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass Erwachsene zurückstecken sollten, um Kindern größtmögliche Normalität zu ermöglichen. Wir Grüne im Bayerischen Landtag haben uns seit Pandemie-Beginn dafür eingesetzt: Kinder und Jugendliche zuerst!
Dort, wo Wohnverhältnisse beengt sind, im häuslichen Umfeld keine Betreuung geleistet werden kann, Überforderung herrscht, dort halte ich die Präsenzpflicht an Schulen für ein wichtiges Instrument, um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aufrechtzuerhalten. Anlässlich der Woche der Seelischen Gesundheit 2021 hatte die Grüne Fraktion des Bayerischen Landtags Sachverständige in den Bayerischen Landtag eingeladen, um uns dem großen Thema seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu widmen.
Natürlich ist Präsenzpflicht nicht überall das Allheilmittel. Ich denke, die Lehrkräfte und Schulleitungen als enge Bezugspersonen vor Ort kennen die persönliche Situation der Schulfamilie am besten und können anhand der Lage vor Ort am besten einschätzen, ob Präsenz oder Absenz das Mittel der Wahl ist. Lehrkräfte und Schulleitungen sind auch die ersten, die das Pandemiegeschehen in vollem Umfang erkennen können, sie sind aktuell - Ende Januar 2022 - deutlich näher dran als Gesundheitsämter mit ihren überlasteten, oft zeitverzögerten Meldesystemen. Sie wissen oft, wo aufgefangen werden kann und das Zuhause ein sichererer Ort ist, und wo das fraglich ist. Die aktuelle Forschung zeigt aber, wie wichtig Präsenz-Angebote sind und das nicht nur, weil rund 60% der Meldungen von Kindswohlgefährdung aus dem nicht-familiären Bereich kommen, sondern von Schulen, Kindertagesstätten etc. - Lassen Sie mich Ihnen hier Auszüge einer umfangreichen Meta-Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung mit auf den Weg geben. Die Daten bestärken mich in meiner Überzeugung, dass Präsenz-Angebote ein wesentlicher Beitrag zum Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen sind:
"[...] Betrachtet man die Vielzahl an Studien, die in den letzten Monaten erschienen sind, zeigt sich, dass es – neben reduziertem Bildungserfolg – im Wesentlichen vier unterschiedliche Dimensionen von Belastungen für Kinder und Jugendliche gibt: psychische Gesundheit, körperliche Gesundheit, Gewalterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung. [...] Durch Schulschließungen brechen alltagssichernde Strukturen weg, Kinder bewegen sich weniger, ernähren sich häufig ungesünder und die Mediennutzung steigt stark an. Eltern sind, durch die Situation zuhause, häufig selbst schwer belastet. Internationale Studien belegen, dass sich solche Belastungen übertragen und sich bereits bei Kindern vermehrt als psychische Beschwerden bemerkbar machen (Bignardi et al. 2020; Li und Zhou 2021; Crescentini et al. 2020). [...] Zur Messung von Depressivität verwenden wir eine in der Psychologie anerkannte Kurzskala (State and Trait Depression Scale - STDS, Spaderna et al. 2002), [...] Die Auswertungen für die Teilfragen zeigen bereits, dass im Durchschnitt sich 9 der 10 Indikatoren verschlechtert haben, zum Teil deutlich (Abb. 6). [...] Bereits gegen Ende des ersten Lockdowns weist in Deutschland jeder vierte junge Mensch zwischen 16 und 19 Jahren klinisch relevante Symptome einer Depression auf. Das ist eine statistisch signifikante Zunahme um 15 Prozentpunkte, deutlich mehr als eine Verdopplung. [...] Für Deutschland zeigt die COPSY-Studie (COrona und PSYche) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) belastbare empirische Befunde zu psychischen Belastungen. Sie ist als Längsschnitt angelegt und erfasst als eine der wenigen nationalen und internationalen Studien die Situation über beide Lockdowns (Ravens-Sieberer et al. 2020, 2021). [...] Im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie haben während der Pandemie bis in den zweiten Lockdown psychosomatische Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen zugenommen, z. B. Bauchschmerzen von 21 % auf 36 %, Niedergeschlagenheit von 23 % auf 43 %, Kopfschmerzen von 28 % auf 46 % und Gereiztheit von 40 % auf 57 % (Abb. 9). Auch das Risiko für Verhaltensauffälligkeiten stieg von 13 % auf 19 % (Abb. 10), emotionale Probleme nahmen von 16 % auf 24 % zu [...] Insgesamt 71 % der Kinder und Jugendlichen fühlten sich durch die Kontaktbeschränkungen während des ersten Lockdowns belastet, zu Beginn des zweiten Lockdowns waren es 83 %. Kinder und Jugendliche berichteten nicht selten von mehr Streit und dass sich das Verhältnis zu Freunden während der Kontaktbeschränkungen verschlechtert habe, was als große Belastung empfunden wurde. [...] Schließlich haben auch andere negative Verhaltensweisen, wie übermäßiger Medienkonsum, ungesunde Ernährung und zu wenig körperliche Bewegung im zweiten Lockdown nochmals zugenommen (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf 10.02.2021) [...] Die Folgen des Lockdowns für Kinder aus Förderschulen und Sonderschulen sind besonders belastend. Für sie ist nicht nur der Schulunterricht weggefallen, sondern auch viele Therapieangebote und häufig sind diese nach dem Ende des ersten Lockdowns auch nicht wieder aufgenommen worden, weil die Kinder durch ihre körperliche oder geistige Beeinträchtigung zu den Risikogruppen gehören. Die Entspannung, die andere Kinder und Jugendliche und ihre Familien nach dem Lockdown erfahren haben, blieb vielen dieser Familien versagt (Kugelmeier und Schmolze-Krahn 2020a, 2020b). [...] Der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit depressiven Symptomen ist von 10,2 % auf 25,2 % angestiegen. Da 3,2 Mio. Jugendliche im Alter 16 bis 19 Jahren in Deutschland leben, würde dieser Anstieg infolge der Corona-Pandemie und der Corona-Maßnahmen einer Zunahme von 477.000 Jugendlichen mit klinisch relevanten depressiven Symptomen entsprechen. [...] Erfahrungen aus wirtschaftlichen Krisen der letzten Jahre zeigen, dass es in solchen Situationen immer zu einem deutlichen Anstieg an körperlicher, emotionaler und sexualisierter Gewalt an Kindern kam (Fegert et al. 2020; Schneider et al. 2017). Internationale Studien bekräftigen diese Vermutung für die Corona-Pandemie, so haben Lee et al. (2021) für die USA einen Zusammenhang zwischen krisenbedingten wirtschaftlichen Schwierigkeiten, sozialer Isolation und Kindesmisshandlung in der Pandemie nachgewiesen. [...] Gewalterfahrungen gehören zu den stärksten Risikofaktoren für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit langwierigen Folgen bis ins Erwachsenenalter hinein (Schlack et al. 2020). Dies gilt nicht nur für selbst erfahrene Gewalt, sondern auch bei Gewalt im familiären Umfeld, die von Kindern miterlebt wird (Clemens et al. 2021). [...]"
(Quelle: "Belastungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der Corona-Pandemie" des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung; https://www.bib.bund.de/Publikation/2021/pdf/Belastungen-von-Kindern-Jugendlichen-und-Eltern-in-der-Corona-Pandemie.pdf?__blob=publicationFile&v=11 - abgerufen zuletzt am 31.01.2022)
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur von Ihnen angesprochenen Gefahrensituation sagen:
Die Grüne Stadtratsmehrheit der Landeshauptstadt München hat Ende 2021 beschlossen, auch Kitas (zu Recht!) mit Luftfiltern auszustatten, es gibt im Grün regierten München ein eigens eingerichtetes Impfzentrum nur für Kinder und Jugendliche. Wenn Sie von den Kindern unter 12 Jahren sprechen, von denen die meisten noch keine einzige Impfdosis erhalten haben, so kann ich nur darauf hinweisen, dass es ausreichend Termine im Münchner Kinder- und Jugend-Impfzentrum gibt und betone, dass ich nur auffordern kann, umgehend einen Termin zu vereinbaren und Kinder und Jugendliche impfen zu lassen: https://www.wir-impfen-muenchen.de
Kinder und Jugendliche verdienen Schutz - auch Impfschutz.
Ich hoffe, Ihrem Auskunftsbedürfnis gedient zu haben und freue mich immer, wenn Menschen sich für Kinder- und Jugendbelange engagieren.
Es grüßt
Sanne Kurz