Frage an Sahra Wagenknecht von Johann J. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Liebe Kollegin Wagenknecht
Ich weiß Deine Sichtweisen zu schätzen und argumentiere gemeinhin in exakt der gleichen Art und Weise. Leider stelle ich fest, dass der grosse Teil meiner Zeitgenossen, dies wird bei Dir vielleicht ein wenig anders sein, sich nicht aus den gegenwärtig sie treibenden Rückkopplungen zu befreien weiß; selbst bei gut überlegter und geschickt ausformulierter Argumentation ist die übliche Reaktion zumeist strukturmythologisch.
Ich bin Gewerkschafter und stelle fest, dass die grossen Einzelgewerkschaften in unserer Republik grösstenteils kapitalistisch ausgerichtet sind; gesteuert von irgendwelchen Mittelalter-SPD´lern, die von sozialpartnerschaftlicher Eintracht träumend den Fortschritt verhindern und aus meiner Sichtweise heraus als reaktionär zu bezeichnen sind.
Wer intellektuell halbwegs auf der Höhe ist und weitreichenden Denkweisen folgen kann, denkt sofern er in unserer Republik gestalterisch tätig ist zumeist anders; die grosse Masse der faktisch zwar Unzufriedenen scheint mehrheitlich nicht zu einem diesbezüglichen Verständnis fähig zu sein; da geht´s auch ganz schlicht um die eigene Nase.
Micht würde interessieren, in wie weit Du es für möglich hälst, dass der durch verinnerlichte Erfahrungen mit seiner Umwelt geprägte Mensch zu von diesen Erfahrungen abweichenden Rückkopplungen fähig ist?
Ist es wirklich denbar, dass die Mehrheit der Staatsglieder unserer Republik aus der gegenwärtigen Ordnung heraus den anerzogenen Egoismus überwindet, um sich als gesellschaftliche Wesen begreifend andere Wege zu beschreiten?
Wir erscheint dies aus einer philosophischen Betrachtungsweise heraus überaus fragwürdig, denn so widrig wie die gegenwärtige Ausfestaltung der menschlichen Gesellschaft ist, so widrig müssen ergo die Denkweisen der Mehrheit sein.
mit solidarischen Grüßen
Hans Janosch
Lieber Kollege Janosch,
erstmal vielen Dank für die sehr interessante Frage.
Erkenntnisprozesse verlaufen ja nicht geradlinig, sondern in der Regel recht widersprüchlich. Es gibt zu jeder Meinung eine Gegenmeinung, zu jeder Behauptung auch Widerspruch. Wo es Unterdrückung gibt, dort gibt es auch Widerstand. Es gibt immer beides. Und beides beeinflusst in irgendeiner Weise Erfahrungen und damit das menschliche Bewusstsein.
Im Kapitalismus wird von den ihn tragenden Institutionen regelmäßig das kolportiert, was dieses System aufrechterhält, und nicht das, was den Kapitalismus irgendwie in Frage stellen könnte. So hinterlässt beispielsweise die alltägliche Berieselung der Menschen durch die Mainstream-Medien durchaus Wirkung, beeinflusst also Denkweisen, wie ich meine, in negativer Hinsicht – von einigen Ausnahmen mal abgesehen. Wir als Linke können diesem von herrschenden Kreisen produzierten Zeitgeist erst einmal nur widersprechen und Alternativen aufzeigen. Auch das hat ja wiederum eine Wirkung auf das menschliche Denken.
Ich habe also die Hoffnung, dass sich mehr Menschen von den Alternativen der LINKEN überzeugen lassen, aus ihrer Passivität herauskommen und offensiv für ihre sozialen und politischen Rechte streiten. Nicht zuletzt die Erfahrungen z.B. mit der Agenda 2010, mit Hartz IV und anderen sozialen Verbrechen führen dazu, dass sich zunehmend mehr Menschen gegen die neoliberale Welle der sozialen Demütigungen wehren. Und sie tun das völlig zu recht! Ich glaube auch, dass sich in dieser Hinsicht mit dem Aufkommen der LINKEN in Deutschland schon einiges in die richtige Richtung bewegt hat. Aber es ist natürlich trotz aller sichtbaren Fortschritte noch bei weitem zu wenig Gegenwehr vorhanden. Für eine kraftvolle antikapitalistische Bewegung, die dem Kapitalismus Zugeständnisse abkämpfen kann und ihn letztlich überwindet, bis dahin ist es sicher noch ein weiter und steiniger Weg. Aber in Kuba, Venezuela, Bolivien und anderen lateinamerikanische Staaten kann man sehen, was möglich ist. Auch das sollte Hoffnung geben.
Mit freundlichen Grüßen
Sahra Wagenknecht