Frage an Sahra Wagenknecht von Stefan S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Wagenknecht,
Sie und Ihre Partei treten ja für die Einführung der Volksgesetzgebung auf Bundesebene und für das politische Streikrecht ein. Ersteres halte ich nämlich persönlich für eine sehr sinnvolle Möglichkeit das politische System in Deutschland zu ergänzen, während ich den politischen Streik sehr kritisch sehe. Menschen in bestimmten Berufen wie z. B. Piloten und Lokführern werden dadurch im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen Möglichkeiten gegeben ihre Interessen - auch gegen Mehrheiten - durchzusetzen. Generell fällt auch immer wieder auf, dass eine große Aufsehen erregende Masse von Demonstranten demoskopisch betrachtet nicht unbedingt eine Mehrheit in der Bevölkerung darstellt (Beispiel Stuttgart 21). Daraus ergibt sich m. E. eine Problematik bezüglich des Demokratieprinzips in Art. 20 GG. Bei Volksentscheiden hingegen haben alle Stimmen das gleiche Gewicht. Wenn der Parlamentarische Rat die Volksgesetzgebung auch aus meiner Sicht nicht nachvollziehbaren Gründen weggelassen hat, so hat er mit der Formulierung in Art. 20 Abs. 2 GG doch eine sehr gute Entscheidung getroffen.
Ich würde gerne von Ihnen wissen warum Sie eine Legalisierung politischer Streiks zusätzlich zur Volksgesetzgebung wollen und wie Sie das von mir oben angeführte Demokratie-Problem des politischen Streiks sehen sowie die verfassungsrechtliche Problematik einer Einführung solcher Streiks wegen Art. 79 Abs. 3 GG in Bezug auf Art. 20 Abs. 2 GG. Damit Sie mich nicht missverstehen will ich betonen, dass ich Demonstrationen und Streiks nicht kritisch gegenüberstehe, sie aber eher als Mittel sehe um auf etwas hinzuweisen und weniger um damit Staatsgewalt auszuüben.
Auf eine Antwort und Stellungsnahme gespannt wartend verbleibe ich
mit freundlichen Grüßen
Stefan Schedel
Sehr geehrter Herr Schedel,
DIE LINKE tritt - wie Sie bereits geschrieben haben - für die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene und für die Legalisierung des politischen Streiks ein. Ersteres ist aus Ihrer Sicht unstrittig. Bei der Legalisierung politischer Streiks sehen Sie allerdings demokratische und juristische Probleme. Diese sehe ich so nicht. Der ein oder andere mag einwenden, bei Volksentscheiden hätte - rein formal betrachtet - jede einzelne Stimme das gleiche Gewicht, bei Streiks hingegen hätten nur jene Einflusskraft, die tatsächlich streiken würden.
Diese Sichtweise vergisst aber, wie Politik im heutigen Kapitalismus funktioniert.
Ein Beispiel: Nur eine reiche Minderheit profitiert von Hartz IV, Dumpinglöhnen und Schikanen gegen Arbeitslose, die Mehrheit der Bevölkerung steht dem jedoch ablehnend gegenüber. Ist es daher nicht mehr als berechtigt, wenn die Beschäftigten im Interesse der Mehrheit gegen Sozialabrissprogramme, Hartz IV und andere soziale Sauereien streiken wollen? Eine Mehrheit der Deutschen ist für den Abzug deutscher Bundeswehrtruppen aus Afghanistan, eine Mehrheit ist gegen die Rente ab 67 und gegen Hartz IV. Aber die herrschende Politik missachtet die Mehrheitsmeinung in grundsätzlichen Fragen und unterwirft sich den Interessen einer kleinen vermögenden Minderheit. Kapitalistische "Demokratie" ist heute nichts anderes als Minderheitenpolitik - Politik im Interesse der oberen Zehntausend. Von daher halte ich es für völlig legitim, wenn sich die Arbeitnehmer gegen eine von kapitalkräftigen Kreisen und einer elitären Politikerkaste zu verantwortende Politik auflehnen, die Millionen Menschen in die Armut schickt. Arbeitnehmerstreiks und Demonstrationen sind also demokratische und legitime Mittel, Interessen der Mehrheit durchzusetzen.
Manch andere Staaten sind übrigens viel progressiver als die Bundesrepublik: Was in Deutschland verpönt ist, gehört etwa in Frankreich zur Kultur des Widerstandes. Dort sind politisch motivierte Streiks etwas völlig normales und Ausdruck demokratischer Gegenwehr.
Hierzulande hingegen gelten nach der deutschen Rechtsprechung und der herrschenden Ansicht in der Arbeitsrechtslehre politische Streiks als rechtswidrig und damit illegal. Ich bin deshalb unbedingt dafür, das politische Streikrecht ausdrücklich im Grundgesetz zu verankern. Dann hätten wir in Deutschland juristische Klarheit und mehr Demokratie und Rechte für die Arbeitnehmer.
Mit freundlichen Grüßen
Sahra Wagenknecht