Frage an Rüdiger Kruse von Ingrid S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Moin, moin,
ich bin sozusagen sozio-demografisch die bürgerliche Mitte. Ich wollte von Hamburg zur Demo für den Kohleausstieg nach Hambach fahren. Auch, weil es Unrecht ist, das Volksvertreter und EIN Unternehmen nicht die Meinung von 3/4 der Bevölkerung akzeptieren und noch nicht mal versuchen, diese im Ansatz zu respektieren. Nein, es wird komplett ignoriert. Es sollte eine gewaltige, friedliche Demonstration von besorgten Bürgern werden: Aber, besser mal absagen... Plötzlich gibt es nicht genug Sicherheit? Keine Möglichkeiten die Demonstranten zu sichern? Die Polizei kann sichern, davon bin ich überzeugt. Jede Menge Grossevents werden gesichert. Die NRW Landesregierung hat Angst. Angst, dass Ihr Versagen zu deutlich wird. Was oder wer läuft eigentlich schief in unserem Land? Wie kann man so eine Demo verbieten? Es ist keine extremistische Demo. Ich bin eine normale spiessige Bürgern, meine Wut wächst seit Wochen und ich werde ab sofort altersradikal.
Ich weiß, dass Sie jetzt schmunzeln. Aber es ist nicht wirklich lustig.
Nicht nur die NRW Landespolitik und mittlerweile auch Bundespolitik - hier reagiert ja auch keiner - verspielt jedes Politikvertrauen. Die Verhältnismäßigkeit ist nicht mehr gewahrt: Tagelange Diskussion über Maassen und keine Reaktion auf Hambach, den gewaltigen Bürgerprotest oder den Verbot einer Demonstration aus der bürgerlichen Mitte. Stattdessen eine Lehrbuchverhalten zu, wie erhöhe ich Politikverdrossenheit, provoziere ich auch die bürgerliche Mitte, ignoriere Mehrheitsmeinungen und mache ich Menschen wütend, traurig und ohnmächtig. Ich bin zutiefst wütend, enttäuscht von meinen Volksvertretern. Ich weine. Warum nur äußert sich kein Politiker - außer den Gründen oder Linken - ansatzweise dazu? Warum hilft niemand der bürgerlichen Mitte, die für den beschlossenen Kohleausstieg ist. Jetzt dürfen wir noch nicht mal demonstrieren.
I. S.
Liebe Frau S.,
zunächst möchte ich Ihnen sagen, dass Sie mich mit Ihrer leichten Selbstironie tatsächlich zum Schmunzeln gebracht haben. Dies schmälert Ihr Anliegen allerdings keinesfalls in seiner Ernsthaftigkeit. Im Gegenteil.
Zunächst zur Rechtsstaatlichkeit: Auch wenn mir die Rodung des Hambacher Forsts widerstrebt, muss ich anerkennen, dass hier ein Rechtsanspruch vorliegt. Wir können den Rechtsstaat und seine Organe (insb. Gerichte und Polizei) nicht nur dann respektieren, wenn sie sich passend zur eigenen Meinung verhalten. Der Rechtsstaat würdigt die ihm vorgetragenen Sachverhalte objektiv und verfährt nicht nach Meinungen – nicht einmal nach eventuellen Mehrheitsmeinungen. Eben dieser Rechtsstaat hat schließlich auch dafür gesorgt, dass das hanebüchene Demonstrationsverbot binnen kürzester Zeit vom Verwaltungsgericht Aachen einkassiert wurde. Es stellt sich aber die Frage, ob es klug ist, auf sein Recht zu pochen. War es wirklich für RWE nicht möglich, die Vorschläge der „Kohlekommission“ abzuwarten? Meines Erachtens wäre es klug gewesen, diese Ergebnisse abzuwarten.
Ich teile Ihre Ansicht, dass die Politik nicht ausreichend kommuniziert. Meine Perspektive ist, dass uns hier eine Festlegung auf die Füße fällt, die wir schon weitaus früher getroffen haben – nämlich die Energiewende. In deren Folge haben wir den Atomausstieg beschlossen, wir haben den Anteil erneuerbarer Energien in unserem Strommix bisher auf mehr als ein Drittel erhöht und wir schließen in diesem Jahr das letzte Steinkohlebergwerk. Diese Grundsatzentscheidung wurde von allen gesellschaftlichen Strömungen und ihren Parteien an irgendeiner Stelle mitgetragen. Die letzte rot-grüne Landesregierung in NRW zum Beispiel hat unter diesem Leitbild auch die Konsequenz gezogen, dass Braunkohle als Brückentechnologie notwendig sei, und den Abbau im Gebiet des Hambacher Forstes genehmigt.
Und nun sind wir im Hier und Jetzt angekommen, in dem laut aktuellen Umfragen 79 Prozent der Menschen in NRW den Erhalt dieses Waldes befürworten. Demgegenüber steht eine Politik, deren Verantwortung über das Hier und Jetzt hinausgeht und die unserer gemeinsamen Entscheidung für die Energiewende und der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien verpflichtet ist. Sich nicht zur Sache zu äußern und die öffentliche Unruhe auszusitzen, hat offensichtlich nicht funktioniert. Diese Methode führt eher zu größerer Frustration, wie ja auch aus ihrem Schreiben ersichtlich wird.
Ich setze mich dafür ein, Deutschland nachhaltig zu machen. Trotz etlicher Erfolge wird dies noch ein anstrengender Weg. Während der Zeit der Transformation wird es noch vieles geben, das ganz und gar nicht nachhaltig ist, wie eben die Nutzung von fossilen Energiequellen. Wir müssen alles dafür tun, dass die Rodung des Hambacher Forstes nicht nötig wird. Das wir das schaffen, kann ich Ihnen nicht garantieren. Vielleicht ist es zu spät, vielleicht sind wir mit den Möglichkeiten der nachhaltigen Energieversorgung noch nicht weit genug.
Die im Juni eingesetzte „Kommission Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ beschäftigt sich damit, wie man den beschlossenen Ausstieg aus der Braunkohle nachhaltig gestaltet, und soll bereits bis Ende des Jahres erste Ergebnisse vorlegen. Wir werden gut daran tun, die Öffentlichkeit früh in die Entscheidungsfindungen einzubinden und diese so nachvollziehbarer zu machen. Die Auseinandersetzung eignet sich übrigens nicht für das Hochstilisieren eines „Klassenkampfes“ zwischen Umwelt und Industrie, denn längst ist ein großer Teil der Industrie maßgeblicher Treiber der Nachhaltigkeit. Ich danke Ihnen für Ihr Engagement und wünsche uns gemeinsamen Erfolg!
Beste Grüße
Rüdiger Kruse