Frage an Rüdiger Kruse von Helena P. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Kruse,
vor drei Jahren habe ich Ihnen bereits die Frage gestellt, wie Sie über bundesweite Volksentscheide denken. Ich muss die Frage noch einmal stellen, um zu erkennen, welche Schlussfolgerungen Sie aus den jüngeren politischen Entwicklungen ziehen.
In Ihrer letzten Antwort meinten Sie, dass bei vielen Entscheidungen, die auf Bundesebene getroffene werden, große Komplexität herrsche und dass nicht jeder Bürger den Willen habe, sich mit solch komplexen Fragen zu befassen. Sie wissen sicherlich jetzt (ich denke da z.B. an Freihandelsabkommen), dass viele Bürger sich viel intensiver und fachkundiger mit Fragen befassen können, als ein normaler Abgeordneter. Auch im Bundestag läuft es am Ende auf eine JA- oder NEIN-Entscheidung aus.
Die populistischen Entwicklungen und das Wachstum von AfD und schlimmeren Erscheinungen sind unzweifelhaft darauf zurückzuführen, dass große Teile der Bevölkerung den Eindruck haben, dass man auf sie nicht hört. Dies muss den Parlamentariern zu denken geben.
Daher meine Frage noch einmal:
Wären Sie bereit, heute über bundesweite Volksentscheide ernsthaft nachzudenken?
Dies übrigens im Grundgesetz Artikel 20 vorgesehen, aber nicht realisiert worden ist? Absatz 2 besagt: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen UND ABSTIMMUNGEN ... ausgeübt."
Realisiert worden ist aber nur die eine Hälfte, das Wahlgesetz. Die von den Vätern des Grundgesetzes in weiser Voraussicht vorgesehene zweite Teil ist bis heute nicht umgesetzt worden.
Sehr geehrte Frau Peltonen,
vielen Dank für Ihre Frage bei abgeordnetenwatch zur Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene.
Auf Ihre Frage bei abgeordnetenwatch vom 23. November 2013 antwortete ich am 02. Dezember 2013: „Auf kommunaler und Landesebene können Volksentscheide, als Ergänzung zur parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, sinnvoll sein. Hier geht es häufig um lokale Themen, bei denen die Auswirkungen von Entscheidungen relativ leicht einzuschätzen sind. Bei vielen Entscheidungen auf Bundesebene, die wir im Deutschen Bundestag treffen, herrschen große Komplexitäten. Als Abgeordneter kann man sich in seinem Fachbereich sehr intensiv mit einem Thema befassen, unterschiedliche Meinungen anhören, das Für und Wider einer Entscheidung abwägen und am Ende ein entsprechendes Urteil fällen“.
Diese Position vertrete ich auch heute. Im Deutschen Bundestag fällt am Ende im Plenum eine Ja-oder-Nein-Entscheidung der Abgeordneten. Voraus geht dieser Abstimmung allerdings ein langer und sachorientierter Beratungsprozess. Wir führen fraktionsinterne Diskussionen, holen Stellungnahmen von Experten ein, führen Anhörungen von Spezialisten durch und debattieren mit den Kollegen der anderen Fraktionen in den Ausschusssitzungen. Meine Kollegen und ich spezialisieren uns auf bestimmte Politikbereiche, mit denen wir uns jeweils intensiv beschäftigen. Zur Bewältigung dieser Aufgaben stehen uns z. B. unsere Mitarbeiter oder der wissenschaftliche Dienst des Bundestags zur Verfügung. Damit ist, trotz Spezialisierung der Abgeordneten, gewährleistet, dass wir uns umfassend mit den Themen beschäftigen und eine Abwägung vornehmen. Es ist also gewährleistet, dass eine tiefere Auseinandersetzung mit Fragestellungen erfolgt. Am Ende des Prozess, bei der Abstimmung im Plenum, wird dann tatsächlich nur ein „Ja“ oder „Nein“ sichtbar.
Ein Argument, welches gegen Volksentscheide auf Bundeebene spricht, war das Beispiel der Freihandelsabkommen. Die Heftigkeit, mit der um die beiden Abkommen TTIP und CETA gerungen wurde wird, zeigt die Probleme, wenn komplexe Fragestellungen stark vereinfacht werden. Eine sachliche Debatte um die Sinnhaftigkeit von TTIP und CETA fand und findet kaum statt. Bei TTIP wurde mit plakativen Kampagnen à la „Chlorhühnchen stoppen“ Ängste geschürt und Emotionen heraufbeschworen, um eine Ablehnung zu schaffen. Ein Austausch von Argumenten und unterschiedlichen Positionen gab es kaum. Die übergeordneten Folgen einer Ablehnung von beiden Freihandelsabkommen wurden wenig abgewogen. Ein Kritikpunkt an den Verhandlungen zu TTIP, der in Teilen berechtigt war, waren die auf EU-Ebene geführten Verhandlungen, die nicht unserem Transparenz-Maßstab entsprachen. Dies wurde geändert. Bei zukünftigen Prozessen muss dies besser ablaufen.
Ein wichtiger Aspekt, der bei einer verknappten „Ja-oder-Nein-Kampagne“ zu wenig Berücksichtigung fand, war z. B. die Frage nach den gemeinsamen Werten. Unser wirtschaftliches Grundmodell, die (Soziale) Marktwirtschaft, teilen wir mit den USA und Kanada. Mit diesem Wirtschaftsmodell ist auch die liberale Demokratie eng verknüpft. Der Schutz der Menschenwürde, das Recht auf freie Entfaltung, das Recht auf Gleichberechtigung und unsere bürgerlichen Freiheiten, sind essentielle Bestandteile unseres Modells. Damit befinden wir uns, weltweit gesehen, in der Minderheit. Der Großteil der Menschheit verfügt nicht über die genannten Freiheiten. Im Endeffekt werden durch die Ablehnung einer Zusammenarbeit mit den USA und Kanada andere, unfreie Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle unterstützt. Das ist einer der Aspekte die in der Debatte um die Freihandelsabkommen zu kurz kamen. Die langfristigen Folgen werden bei emotionalisierten Kampagnen nur selten bedacht.
In Ihrer Frage verweisen Sie auf Artikel 20 des Grundgesetzes, in dem in Absatz 2 aufgeführt ist, dass die Staatsgewalt vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird. Die Möglichkeit der direkten Abstimmungen wird auf der kommunalen Ebene und der Landesebene genutzt. Auf Bundesebene findet der Passus „und in Abstimmungen“ keine Anwendung. Ich denke auch nicht, dass dies sinnvoll wäre. Das oben erläuterte Beispiel um die Freihandelsabkommen ist ein Argument gegen die Einführung von Volksentscheiden. Debatten würden noch mehr mithilfe von Emotionen geführt, statt mit Fakten. Komplexe Fragestellungen würden verkürzt auf ein „Ja“ oder ein „Nein“ – wobei im Regelfall das „Nein“ gewählt wird. Das politische Klima würde rauer werden, aggressiver. Aus diesem Grund plädiere ich für das System der repräsentativen Demokratie. Bei allen Schwächen, die dieses System haben mag, ist es doch das Beste.
Noch einige Worte zum Phänomen des Populismus. In Ihrer Analyse, dass populistische Strömungen präsenter geworden sind, stimme ich Ihnen zu. Es handelt sich um sehr lautstarke Bewegungen, denen verhältnismäßig viel öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wird. Ich bin nicht der Ansicht, dass sich an solchen Protestformen eine Mehrheit der Bevölkerung beteiligt. Doch durch radikale Forderungen wird ihnen eine starke Aufmerksamkeit im öffentliche Diskurs zu teil.
Dabei wird der Populismus nicht nur von der rechten Seite genutzt, sondern ist auch im linken politischen Lager erstarkt. Der Populismus definiert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern in Abgrenzung oder Ablehnung zu einem Anderen. Dabei ist er weitgehend ideologiefrei. Das Phänomen wird durch mehrere weitere Merkmale definiert:
• Ablehnung von Eliten und Institutionen
• Anti-Intellektualismus
• einem scheinbar unpolitischen Auftreten
• Berufung auf den gesunden Menschenverstand
• Polarisierung, Personalisierung und Moralisierung
• Betonung des Gegensatzes zwischen Volk und Elite
Einige der genannten Merkmale werden auch in Ihrer Frage deutlich. Indem Sie schreiben, dass „... große Teile der Bevölkerung den Eindruck haben, dass man auf sie nicht hört“ wird der vermeintliche Gegensatz zwischen „Volk“ und „Elite“ betont.
Die Antwort auf die zunehmende Präsenz des Populismus kann nicht noch mehr Populismus und noch stärkere Vereinfachung von Fragstellungen sein – auch wenn dies für manche verlockend erscheinen mag. Wie können Bürger und Politiker stattdessen auf die zunehmenden populistischen Strömungen reagieren? Es muss uns als Gesellschaft gelingen, die Menschen wieder stärker für die Debatte zu gewinnen. Wir wollen und müssen mehr Menschen zum Debattieren und Mitmachen anregen. Am Ende muss wieder derjenige gewinnen, der das bessere Argument hat. Nicht derjenige, der am lautesten schreit und sich am stärksten empört. Wir müssen wieder Freude daran finden, mit Argumenten zu überzeugen und uns überzeugen zu lassen. Bundeskanzlerin Merkel fand auch hierzu die richtigen, ausgewogenen Worte auf dem vergangenen Parteitag der CDU: „Wir haben es selbst in der Hand, wenn wir nicht mitmachen beim sprachlichen Überbietungs- und Eskalierungswettbewerb und zwar auch in hitzigen Debatten nicht [...]. Es sind sehr selten die ganz einfach Antworten, die unser Land voran bringen.“
Beste Grüße
Rüdiger Kruse