Frage an Rolf Kramer von Uwe S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Kramer,
vielleicht mal eine ganz einfache Frage. Was halten Sie davon, dass die sog. Abweichler von der Partei in Hessen ausgeschlossen werden sollen. Sind Abgeordnete nicht ausschliesslich ihrem Gewissen gegenüber verantwortlich, wann auch immer es sie ereilt? Gäbe es nicht viel mehr vernünftige bzw. weniger unvernünftige Gesetze, wenn die Parteiraison wegfallen würde?
Sehr geehrter Herr Schulz,
vielen Dank für Ihre Frage vom 14. November 2008. Hier ist meine Antwort:
Grundlegend haben Sie Recht, dass Abgeordnete in Ihren Entscheidungen ausschließlich Ihrem Gewissen gegenüber verantwortlich sind. Dieser Grundsatz ist im Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes festgelegt:
"Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen."
Explizit auf die Situation in Hessen bezogen, kann ich die Entscheidung von Silke Tesch, Carmen Everts und Jürgen Walter und insbesondere den Zeitpunkt, Andrea Ypsilanti bei der Wahl zur Ministerpräsidentin Ihre Stimme zu verweigern, nicht nachvollziehen. Im Gegensatz zu den drei genannten Abgeordneten hat Dagmar Metzger stets frühzeitig im Entscheidungsprozess und äußerst konsequent ihre ablehnende Haltung zu einer durch die Linken tolerierte rot-grüne Minderheitsregierung deutlich gemacht. Sicherlich könnte man über Ihre Motivation in einzelnen Punkten diskutieren, doch hat Frau Metzger ihre Haltung für alle Beteiligten auf den Parteitagen, Regionalkonferenzen und auch zum Zeitpunkt der Koalitionsverhandlungen offensiv vertreten und intern diskutiert.
Diese Standhaftigkeit bei der Verteidigung der eigenen Position kann man den Landtagsmitgliedern Walter, Tesch und Everts leider nicht bescheinigen. Sie waren in unterschiedlicher Ausprägung über mehrere Monate aktiv in den innerparteilichen Prozess der Willensbildung sowie die spätere Ausgestaltung der Koalitionsverhandlungen samt deren Ergebnissen involviert. In Folge dessen gaben sie am 30. September 2008 ein positives Votum für die Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung durch die Linken in einer fraktionsinternen Probeabstimmung ab. Möglichkeiten der kritischen Stellungnahme, wozu der Parteitag der hessischen SPD in Fulda Gelegenheit bot, ließen insbesondere die Abgeordneten Tesch und Everts verstreichen. Auch wenn Kritik am Vorgehen von Andrea Ypsilanti in den letzten Monaten sicherlich an einigen Punkten nicht unberechtigt erscheint, wirkt die zu diesem Zeitpunkt von einer großen demokratisch legitimierten Mehrheit abweichende Gewissensentscheidung der drei Abgeordneten überzogen und im Rückblick auf ihr bisheriges Handeln schwer nachzuvollziehen.
Ob dieses Verhalten ein Parteiausschluss nach sich ziehen sollte, müssen meiner Ansicht nach die Genossinnen und Genossen in Hessen entscheiden. Ein solches Verfahren kann laut Organisationsstatut der SPD dann gegen ein Mitglied eingeleitet werden, wenn es "das Gebot der innerparteilichen Solidarität außer Acht lässt oder sich einer ehrlosen Handlung schuldig macht". Voraussetzung ist nach § 35, dass "erheblich gegen die Grundsätze oder die Ordnung der Partei verstoßen" wurde und "dadurch schwerer Schaden für die Partei entstanden ist".Jede Gliederung (Ortsvereine, Unterbezirke und Bezirke) kann die Einleitung eines Parteiordnungsverfahrens beantragen - unabhängig davon, ob ihr der Betroffene angehört.
Ich kann Ihnen abschließend aus meiner eigener Erfahrung als Abgeordneter des Deutschen Bundestags mitteilen, dass ich eine von Ihnen formulierte "Parteiräson" oder auch den sogenannten "Fraktionszwang" noch nicht erfahren habe. Bei einem Gesetzentwurf handelt es sich immer um ein komplexes Gesamtpaket, dass in den Verhandlungen und Ausgestaltung unterschiedlichen Interessen und Kompromissen unterworfen ist. Letztlich muss jedoch jeder einzelne Abgeordnete für sich selbst entscheiden, ob er der vorliegenden Form des Gesetzentwurfes seine Zustimmung erteilen kann, auch wenn sicherlich manche Inhalte und Formulierungen existieren, die nicht sofort die eigene uneingeschränkte Zustimmung hervorrufen.
Mit freundlichen Grüßen,
Rolf Kramer