Frage an Roland Schaeffer von Gesche R. bezüglich Bildung und Erziehung
Lieber Herr Schaeffer,
Wie ist Ihre Haltung gegenüber der viel diskutierten Überlastung junger Gynasiasten/innen? Soll der Lehrplan verkürzt, verschlankt oder gar verjüngt und modernisiert werden? Und wie wollen Sie dieses Thema angehen?
Werden Sie uns den Samstag schufrei halten, oder wollen etwa auch Sie das wohlverdiente Wochenende vieler Familien der Unfähigkeit einiger Weniger opfern?
P.S: ich hätte mich auch über ein kleines Foto auf dieser Seite gefreut.
Es freut sich schon auf Antwort von Ihnen-
Ihre Wählerin Gesche Reimers
Liebe Frau Reimers,
den Samstag zu opfern käme mir nie in den Sinn. Daß das Abitur in 8 Jahren zum Streßprogramm für Kinder geworden ist, hat einen merkwürdigen Grund. Die Kultusminister haben sich darauf geeinigt, die Schulzeit um ein Jahr auf 8 Jahre zu verkürzen, aber die Zahl der Stunden, die eine Schülerin bis zum Abitur ableisten muß, gleich zu lassen. Die Stunden eines Jahres sowie der zugehörge Stoff wurden einfach auf die verbleibenden Jahre verteilt. Die bürokratische Wahnvorstellung, die Qualität des Lernens durch beliebig aufgehäufte Stundenkontingente zu steuern, bedarf keines Kommentars. Aber reicht tief in unseren familiären Alltag hinein.
Das Ergebnis dieser Festlegung, an die alle Schulen gebunden sind. prägt den Alltag unserer Kinder. Meine Tochter (5. Klasse) lernt derzeit die Bezeichnungen für die Knochen des menschlichen Körpers auswendig. Mein Sohn (6. Klasse) antwortet auf die Frage, ob er sich noch an eine einzige dieser Bezeichnungen erinnern kann (er mußte sie natürlich ebenfalls in der 5. lernen): Nein. Der Pädagoge und Bildungsjournalist Reinhard Kahl nennt diese Art von Unterricht "Boulimie-Lernen": Die Kinder müssen große Mengen für sie sinnloser Daten lernen und dann zu einem bestimmten Termin wieder ausspucken. Hängen bleibt wenig bis nichts. Verlorene Lebenszeit. Wer sich an die eigene Schulzeit erinnert, wird genügend Beispiele dafür finden.
Wie die excellenten Schulen in Deutschland (Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, Max-Brauer-Schule in Hamburg und viele andere mehr) zeigen, kann man durch besseren Unterricht andere Ergebnisse erzielen. Das ist für mich das wichtigste: Daß der Unterricht besser wird. Mehr Projekte, mehr zusammenhängende Stunden und Wochen, echte Ganztagseinteilung des Schultages mit Mittagspause und Bewegungsmöglichkeiten, keine Hausaufgaben mehr, kleinere Klassen und verstärkte Individualisierung der Förderung, Abschaffung der Noten bis zur 8. Klasse (für Notengebung wird in Deutschland unglaublich viel Energie verbraucht), Abschaffung des "Sitzenbleibens", 9 Jahre gemeinsamer Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler. Das ist die Richtung, in die sich die Schulen in Hamburg bewegen sollen. Wobei es darum gehen wird, bei dieser "Bewegung" möglichst alle mitzunehmen - nicht um neue bürokratische Reformmodelle von oben. Ich weiß, das hört sich kompliziert an. "Erhaltung der Gymnasien" oder "Verkürzung der Schulzeit um ein Jahr" klingt einfacher. In der Praxis gehen die "einfachen" Rezepte allerdings, wie man an den umverteilten Stundenkontingenten sehen kann, auf Kosten der Schwächsten - der Kinder nämlich. Aber auch LehrerInnen, die ihren Beruf ernst nehmen und Familien, die abends um 8 an den Hausaufgaben sitzen leiden darunter. Und die soziale Gerechtigkeit: Durch ein solches System kommt ein Kind nur dann, wenn zuhause allesnnach geregelt, beraten, nachgelernt werden kann. Wo die Schule versagt, scheitern zuerst jene, die aus "bildungsfernen" Schichten stammen.
Wie Sie sehen, treibt mich das Thema um, deshalb ist die Antwort ein wenig zu lang geworden. Wenn Sie nichts damit anfangen können, freue ich mich auf die Fortsetzung der Diskussion. Ein Foto habe ich ebenfalls gefunden.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr Roland Schaeffer