Was halten Sie von der Idee, die Ideale der franz. Revolution den konkreten Bereichen Bildung/Kunst/Kultur (Freiheit), Wirtschaft (Brüderlichkeit) und Rechtsleben (Gleichheit) zuzuordnen?
Sehr geehrter Herr Beckamp,
kennen Sie diesen Gedanken, die Bildungsebene, den Bereich des Wissenschafts-, Kultur- und Geisteslebens unter völliger Freiheit von staatlichen und wirtschaftlichen Interessen in Selbstverwaltung bestehen zu lassen, um freie Bildung, freie Lehre zu ermöglichen, während wir vor dem Recht weiterhin alle "gleich" sind, aber in der Wirtschaft so etwas wie einen Ethos der Kooperation und Brüderlichkeit einführen, in der weiterhin die Kompetenzen entscheiden und nicht demokratische Prinzipien oder willkürliche staatliche Zwänge; sodass wir auch diese von staatlichen Einmischungen entkoppeln und nur unter das stellen, was wir als Bevölkerung unter den Rechtsbegriff subsumieren? Sprich, was würden Sie von der Idee einer Entkoppelung des Einheitsstaates hin zu einem gegeliederten System halten?
Sehr geehrter Herr H.,
vielen Dank für Ihre Nachricht. Das ist ein interessantes Gedankenspiel.
Grundsätzlich ist die Idealvorstellung einer Unabhängigkeit der genannten Bereiche natürlich zu begrüßen. Ob diese Annahme in der Praxis auch die gewünschten Ergebnisse erzielen würde, wie z.B. dass Kompetenz entscheidend ist, sei mal dahingestellt. Über menschlichen Verhaltensweisen wie Neid, Patronage und Nepotismus kann vermutlich auch das utopischste System nicht stehen.
Am Ende muss man sich der Frage über die systemischen Gegebenheiten annähern. Eigentlich, gerade aus Sicht eines revolutionären Ideals, sollte der Staat ein Mittel zum Zweck sein, um die Bedürfnisse des Volks als dessen Souverän zu erfüllen. Wäre dies gegeben, wäre auch die Verflechtung des Staates mit z.B. dem Bildungssektor unproblematisch bis wünschenswert, da er hierbei nicht ökonomische Klientelinteressen in den Vordergrund stellen würde, sondern ebenjene des ganzen Volkes. Er würde beispielsweise feststellen, dass es Personalbedarf XY gibt und in der Ausbildung dann verstärkt darauf setzen, diesen zu stillen und möglichst gute Rahmenbedingungen hierfür zu bereiten. Damit wären staatliche und Volksinteressen dann deckungsgleich, wäre der Staat der erfüllende Arm des Volkes.
Darüber hinaus gibt es verschiedene, staatstheoretische Menschenbilder. Ihre Vorstellung geht von einem "liberalen" Menschenbild aus (Locke), in welchem das Individuum automatisch vernunftorientiert handelt. Damit würde dann jeder wissen, wo seine Stärken liegen, wie er ein Mehrwert für die Gesellschaft sein kann und (vor allem) das auch sein möchte.
Demgegenüber stünde ein "realistisches" Menschenbild (Hobbes), welches von einem anarchischen, triebgesteuerten Naturzustand ausgeht, wobei auch mit den destruktiven Kräften gerechnet wird ("Homo homini lupus") und der Mensch durch Systemzwänge "gezügelt", "zu seinem Glück gezwungen werden" muss, damit ein geordnetes Zusammenleben möglich ist.
Ginge man von Letzterem aus, wäre eine Entkopplung der genannten Bereiche vom Staat wahrscheinlich weniger zielführend. Welches Menschenbild man nun vertritt, und davon seine staatstheoretischen Positionen ableitet, kann man sich am Ende nur selbst beantworten. Allerdings halte ich es für unwahrscheinlich, dass in einer Wirtschaft grundsätzlich "ein Ethos der Kooperation und Brüderlichkeit" vorherrschen kann, wie Sie schreiben. Ich denke, dass der Mensch hierbei doch eher seinem eigenen Vorteil nach handeln würde und dass man Ideale, wie Brüderlichkeit, nicht einfach vorschreiben kann. Was man hingegen tun kann, ist den gesetzlichen Rahmen dafür bereiten, in welchem jeder möglichst gleiche Voraussetzungen hat, nach seinen Bedürfnissen zu streben.
Mit freundlichen Grüßen
Roger Beckamp