Frage an Renate Sommer von Tobias V. bezüglich Verbraucherschutz
Sehr geehrte Frau Dr. Sommer,
aus verschiedenen Quellen hört man, dass politische Entscheidungen durch Lobbyarbeit beeinflusst werden, zumindest finden ständig solche Versuche statt.
In einem Artikel von Spiegel Online etwa ( http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/0,1518,665569,00.html ) berichtet eine Abgeordnete von bis zu 50 EMails von Lobbyisten, die sie erreichen würden.
Ich gehe davon aus, dass auch an sie als Europaabgeordnete Lobbyisten herantreten.
Im selben Artikel wird bereichtet, ihr Büroleiter (also ein hochstehender Mitarbeiter) sei von Kraft Foods abgeworben worden und arbeite dort nun als "Public-Affairs-Manager", also als Lobbyist.
Meine Frage:
Schätzen sie die (versuchte) Einflussnahme durch Lobbyisten als positiv oder negativ für ihren persönlichen politischen Entscheidungsprozess ein?
Mit freundlichen Grüßen,
Tobias Verse
Sehr geehrter Herr Verse,
im Umfeld eines jeden Parlaments finden Sie tausende Lobbyisten. Das ist in Brüssel beim Europäischen Parlament nicht anders als z.B. in Berlin, London oder Washington, und natürlich versuchen Lobbyisten, die politischen Entscheidungsträger von der Berechtigung ihrer Anliegen zu überzeugen, denn das ist ihr Job. Die Entscheidung darüber, ob und ggfs. welche Anliegen tatsächlich berechtigt sind, liegt dann aber bei den Politikern, die letztendlich in einer demokratischen Mehrheitsentscheidung über Gesetzestexte befinden.
Als Mitglied des Europäischen Parlaments muss ich mich mit einer Vielzahl sehr komplexer Themen befassen, denn ich habe das Recht, konkrete Änderungsvorschläge zu Gesetzesentwürfen der Europäischen Kommission zu machen. Allerdings bekomme ich von der Europäischen Kommission wirklich nur den Gesetzesentwurf, also keinerlei zusätzliche Hintergrundinformationen. Da Niemand allwissend ist und da das Europäische Parlament auch nicht über einen Stab von Spezialisten verfügt, wie dies z.B. in den meisten Ministerien der Fall ist, ist es wichtig, auswärtiges Expertenwissen heranzuziehen.
Zu diesen Experten gehören neben Wissenschaftlern natürlich auch all´ diejenigen, die konkret von einem neuen Gesetz betroffen sein werden, denn diese können nun einmal am besten die möglichen Auswirkungen geplanter Vorschriften in der Praxis und die technische Machbarkeit einschätzen. Wichtig ist dabei jedoch, Gespräche mit allen Betroffenen zu halten, um sich ein ausgewogenes Bild machen zu können.
Während meiner Arbeit am Gesetzesentwurf zur Lebensmittelkennzeichnung habe ich mich deshalb längst nicht nur mit Vertretern der "großen Industrie", die übrigens weniger als 20 % des Lebensmittelsektors in Europa ausmacht, getroffen; die weitaus meisten Gespräche führte ich mit kleinen und mittelständischen Unternehmen, dem Lebensmittelhandwerk, Vertretern der Landwirtschaft, Verbraucherschutz-Organisationen, Tierschützern, Herstellern von Lebensmittelverpackungen, Vertretern des Hotel- und Gaststättengewerbes und des Lebensmittel-Einzelhandels, Krankenkassen, staatlichen Gesundheitsbehörden, zuständigen Ministern und Ministerien der EU-Mitgliedstaaten, Vertretern von Drittstaaten außerhalb der EU und Vertretern verschiedener Regionen innerhalb der EU. Dies alles sind für mich Lobbyisten, und Alles in Allem waren es hunderte von Gesprächen, denn schließlich wird der gesamte Lebensmittelsektor in allen 27 EU-Mitgliedstaaten die neue Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung umsetzen müssen. Zusätzlich habe ich eine große öffentliche Anhörung im Europäischen Parlament in Brüssel durchgeführt, in die ich z.B. auch die Leiterin der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und hohe Beamte der Europäischen Kommission eingebunden habe.
Aus der Unmenge von Informationen, die man auf diese Weise zusammenträgt, muss man sich schließlich sein eigenes "Mosaik" zusammenbauen, das dann die Grundlage für die eigenen Änderungsvorschläge bildet. Wichtig ist es, die notwendige Distanz zu wahren und "Krokodilstränen" von berechtigten Anliegen zu unterscheiden.
Neben mir als Parlamentsberichterstatterin haben dann übrigens alle anderen Mitglieder des Europäischen Parlaments ebenfalls das Recht, eigene Änderungsanträge einzureichen, und von diesem Recht wird reichlich Gebrauch gemacht. Und da der Ministerrat, also die nationalen Fachminister der 27 EU-Mitgliedstaaten, Co-Gesetzgeber auf der europäischen Ebene ist, fließen letztendlich auch dessen Änderungsvorschläge in einen Gesetzestext ein, sofern sie eine Abstimmungsmehrheit im Europäischen Parlament erreichen. Ein Abgeordneter allein kann also niemals den Inhalt eines Gesetzes vorschreiben und festlegen - das ist einer der Vorteile einer Demokratie!
Abschließend möchte ich feststellen, dass es durchaus nicht ungewöhnlich ist,
wenn ein Mitarbeiter aus einem Abgeordnetenbüro zur Industrie oder wohin auch immer wechselt. Eine Assistentenstelle bei einem Abgeordneten ist keine Lebensstellung, sondern ein berufliches Sprungbrett. Der Aufgabenbereich meines ehemaligen Büroleiters umfasste die Leitung meines Büros in Brüssel, die Koordination mit meinem Wahlkreisbüro und die inhaltliche Arbeit zu den Themen EU-Erweiterung, Integration und Islam. Für die Lebensmittelkennzeichnung war und ist eine wissenschaftliche Mitarbeiterin zuständig. Der Stellenwechsel meines ehemaligen Mitarbeiters ist also in keinem Falle vergleichbar mit dem Wechsel eines ehemaligen Bundeskanzlers zu Gazprom. Zudem kann ich Ihnen guten Gewissens versichern, dass ehemalige Mitarbeiter, die ins Lobbying wechselten, mit der gleichen Distanz behandelt werden wie andere Lobbyisten auch.
Mit freundlichem Gruß
Dr. Renate Sommer, MdEP