Frage an Özcan Mutlu von Harald B. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie
Sehr geehrter Herr Mutlu,
die Grünen schreiben in ihrem Wahlprogramm, dass sie mittelfristig eine Gemeinschaftsschule für alle Kinder bis zur 10. Klasse anstreben. In der taz vom 02.09. bekennen Sie sich ausdrücklich zu diesem Ziel. In Ihren Antworten bei kandidatenwatch taucht diese Forderung aber nicht auf. Fürchten Sie, dass Sie mit dieser Forderung bei Herrn Wowereit anecken könnten, der jüngst erklärte, mit ihm sei ein Kulturkampf gegen die Gymnasien nicht zu machen?
Oder nehmen Sie lediglich Rücksicht auf das grüne Mittelschichtmilieu, das von einer solchen Forderung verschreckt werden könnte?
Sehr geehrter Herr Bucher,
ich stehe weiterhin für eine Gemeinschaftsschule für alle von der Klasse 1 bis 10 nach skandv. Vorbild. Daher kann ich Ihre Mutmaßung nicht nachvollziehen. Ich bin aber auch Realist genung, um zu wissen, dass diese Forderung nicht durch einen Parlamentsbeschluss erreicht werden kann. Daher müssen wir auf den Weg dorthin, Selektionsmechanismen wie das Sitzenbleiben, das Probehalbjahr u.ä. abschaffen und durch mehr individiuelle Förderung ersetzen. Zu Prüfen wäre auch, ob sich die Zweigliedrigkeit als ein Zwischenschritt zur Gemeinschaftsschule eignet.
Internationale Schulleistungsstudien liefern keine Belege für die in Deutschland verbreitete Annahme, Lernen in leistungshomogenen Gruppen führe automatisch zu besseren Schulleistungen. Im Gegenteil: Alle Länder, die im Sekundarschulbereich ein größeres Leistungsspektrum bei den SchülerInnen aufweisen, haben bessere Ergebnisse, und das nicht nur bei den leistungsschwächeren SchülerInnen. Die meisten der erfolgreichen Länder haben integrative Schulsysteme mit einer gemeinsamen Schulzeit bis zum Ende der 9. oder 10.. Klasse. Eine Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen wäre also ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ziel muss die Überwindung der Selektivität des bestehenden Schulsystems durch eine moderne Lern- und Unterrichtskultur, sein.
Für mich steht folgenden Frage im Mittelpunkt: Wie können wir Schule, wie können wir Unterricht so verändern, dass jedes Kind möglichst optimal gefördert wird?
Eine Veränderung der Schulstruktur bietet für sich alleine genommen wenig Aussicht auf Erfolg. Wenn Haupt- und RealschülerInnen künftig in einer Schule unterrichtet werden, der spezielle Förderbedarf der SchülerInnen aber nicht abgedeckt wird, wird sich ihre Situation nicht verbessern. Wenn in einer gemeinsamen Schule von der ersten bis zur zehnten Klasse der gleiche schlechte Unterricht wie bisher stattfindet, ändert sich auch wenig. Nur, wenn wir die Heterogenität der Schülerschaft nicht mehr als lästiges Problem betrachten, sondern zum Ausgangspunkt jeder Pädagogik machen, haben wir eine Chance.
Dazu gehört eine grundlegende Veränderung der Unterrichts und des schulischen Lebens. Ein Unterricht, der auf das unterschiedliche Lernniveau und -tempo der Kinder Rücksicht nimmt, anwendungsorientiert ist und an der Lebensrealität der SchülerInnen ausgerichtet ist. Und eine Schule, die sich zu ihrem Umfeld öffnet, Eltern und Dritte einbezieht und ein Klima wechselseitigen Respekts zwischen allen am Bildungsprozess Beteiligten pflegt.
Eine Veränderung der Unterrichtskultur stößt allerdings an strukturelle Grenzen, wenn die SchülerInnen nach wie vor ausgesiebt und leistungsschwächere SchülerInnen auf die nächstniedrigere Schulform abgeschoben werden. Veränderungen der Unterrichtskultur und der Schulstruktur müssen daher konsequent zusammengedacht werden. Gefragt sind alle Maßnahmen, die Schulen dazu ermuntern, Verantwortung für den Erfolg ihrer SchülerInnen zu übernehmen.
Ich hoffe Ihre Frage beantwortet zu haben. Für weitere Fragen stehe ich gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Özcan Mutlu