Wie viele Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland gibt es?
Sehr geehrter Herr Schmid, der Bundeskanzler hat heute in einer an sich sehr beachtlichen Rede davon gesprochen, dass außer Herrn Merz mit seinen aktuellen Plänen nur noch Viktor Orbán, also der Ministerpräsident Ungarns, europäisches Recht brechen würde. Können Sie mir verraten, auf welchen angeblichen Rechtsbruch Ungarns sich diese Äußerung bezog? Ist es nicht so, dass die meisten Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschalnd anhängig sind? Jedenfalls deutlich mehr als gegen Ungarn? Ist es klug, als Bundeskanzler den mehrfach demokratisch gewählten Regierungschef eine befreundeten EU-Landes öffentlich des vorsätzlichen Rechtsbruches zu bezichtigen? Stehen nicht auch unter anderem Italien und das (liberal regierte) Polen in der Kritik, in Sachen Asyl europäisches Recht zu brechen? Warum muss immer das kleine Ungarn herhalten? Mit freundlichen Grüßen
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Sehr geehrter Herr G.,
die Kritik von Bundeskanzler Scholz an dem von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebrachten Entschließungsantrag, der mit den Stimmen der rechtpopulistischen und rechtsextremen AfD-Fraktion eine Mehrheit bekam, bezog sich auch darauf, dass die Einbringung mit einem Notstand in Deutschland begründet wurde.
Im Text heißt es dazu, das „nationales Recht vorrangig anzuwenden (ist), wenn europäische Regelungen nicht funktionieren“. Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sieht solch eine Möglichkeit durchaus vor. Entscheidend ist jedoch, dass nicht der scheinbar betroffene EU-Mitgliedstaat hierüber bestimmt, wann eine außergewöhnliche Notlage gegeben ist, sondern letztlich der Europäische Gerichtshof und dieser ist den von einigen Staaten in der Vergangenheit vorgebrachten Bewegründen in Migrationsfragen bislang nie gefolgt bzw. legt die Anwendung sehr eng aus. Außerdem wurde mit diesem Vorgehen der Eindruck vermittelt (Stichwort „politische Opportunität“), dass der größte und wirtschaftlich stärkste Mitgliedstaat geltendes EU-Recht einfach brechen kann. Solch ein Schritt wäre aber fatal für die EU, die auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft ist.
Darüber freuen würde sich vor allem der ungarische Ministerpräsident Orban, der mit seiner illiberalen Politik immer wieder versucht, die Europäische Union zu schwächen. Die ungarische Regierung versuchte bereits geltendes EU-Recht mittels Artikel 72 AEUV auszuhebeln. - Die EU-Kommission weist für Deutschland einen Mittelplatz mit 117 Vertragsverletzungsverfahren aus, bei Ungarn sind es 141.
Mit freundlichen Grüßen
Nils Schmid