Portrait von Michael Grosse-Brömer
Michael Grosse-Brömer
CDU
20 %
/ 15 Fragen beantwortet
Frage von Karl W. •

Frage an Michael Grosse-Brömer von Karl W. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Guten Tag Herr Grosse-Brömer,

ich bin mir nicht ganz im Klaren in den folgenden Punkten und hoffe, dass Sie mir bei der Klärung helfen können.

1. Ist das GG eine Verfassung?
2. Wurde in den Lissabonner Verträgen rechtsstaatliche Ordnung Übertragen?
3. Sehen Sie die Lissabonner Verträge als staatsauflösende Maßnahme?
4. Wurde in den Lissabonner Verträgen Rechtshoheiten der BRD aufgegeben und wenn ja, welche?
5. Wurden die Zuständigkeitsbereiche des Bundesverfassungsgerichts damit in irgendeiner Art und Weise verändert?

Vielen Dank für Ihre Zeit
Mit freundlichen Grüßen
Walther

Portrait von Michael Grosse-Brömer
Antwort von
CDU

Sehr geehrter Herr Walther,

vielen Dank für Ihre Anfrage über abgeordnetenwatch. Gerne gebe ich Ihnen zu den angesprochenen Punkten Auskunft und hoffe, auf diese Weise die bestehenden Unklarheiten ausräumen zu können.

1. Ist das GG eine Verfassung?

Ja. Das GG erfüllt alle Funktionen einer Verfassung und unterscheidet sich von anderen Verfassungen -- wie etwa der altehrwürdigen amerikanischen oder französischen -- nur durch sein verhältnismäßig junges Alter und seine formelle Bezeichnung als Grundgesetz.

Während Amerikaner und Franzosen ihre Verfassungsurkunde unmißverständlich als "constitution" ausweisen, ist die Bezeichnung "Grundgesetz" tatsächlich zunächst etwas irreführend. Ihre Frage ist insoweit sehr berechtigt. Die Antwort hierauf liegt in der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes.

Da sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zwei deutsche Staaten herausbildeten, wollten die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Spaltung Deutschlands nicht mit einer auf Westdeutschland beschränkten Verfassung vertiefen. Gemäß dem Alleinvertretungsanspruch sollte das Grundgesetz gewissermaßen als Übergangsverfassung solange in Kraft bleiben, bis sich das vereinigte deutsche Volk eine endgültige Verfassung geben würde. Dies wurde durch den früheren Art. 146 GG deutlich zum Ausdruck gebracht.

Aufgrund der Stabilität und der hohen Akzeptanz des Grundgesetzes innerhalb der Bevölkerung hat man sich aber im Rahmen der Wiedervereinigung trotz vieler Diskussionen letztendlich gegen die Einsetzung einer verfassunggebenden Nationalversammlung und gegen den Erlaß einer neuen Verfassung entschieden.

2. Wurde in den Lissabonner Verträgen rechtsstaatliche Ordnung übertragen?

Nein. Zwar wurden durch das Vertragswerk die Handlungsfähigkeit der Union erhöht und deren Zuständigkeiten ausgeweitet, es ist jedoch nach wie vor streng zwischen zwei Ebenen und zwei rechtsstaatlichen Ordnungen zu unterscheiden: Zum einen die nationale (deutsche) und zum anderen die europäische Ebene. Dadurch, dass durch den Lissabon-Vertrag die europäische Ebene gestärkt wird, wird noch lange nicht die nationale Ebene aufgelöst. Im Gegenteil: Im neuen Vertrag ist explizit festgehalten, dass die europäische Integration keine Einbahnstraße ist. Kompetenzen können von den Mitgliedstaaten auf die Union übertragen, aber auch umgekehrt von der Union auf die MS rückübertragen werden. Wichtiger noch: Erstmalig wird den MS im Vertrag die Möglichkeit zum Austritt aus der EU eingeräumt. Das bedeutet: Wie nach dem Vertrag von Nizza bleiben die Mitgliedstaaten auch weiterhin die "Herren der Verträge".

Die deutsche Rechtsstaatlichkeit besteht also ungeachtet einer europäischen Rechtsstaatlichkeit fort und kann nach dem Grundgesetz und der BVerfG-Rechtsprechung nicht endgültig nach Europa verlagert werden.

3. Sehen Sie die Lissabonner Verträge als staatsauflösende Maßnahme?

Nein, beim Vertrag von Lissabon handelt es sich definitiv nicht um eine die Bundesrepublik in ihrem Bestand bedrohende Maßnahme. Gleichwohl sind die bei vielen Menschen bestehenden Ängste vor einem europäischen Superstaat ernst zu nehmen. Schließlich diskutieren auch die Rechtswissenschaftler nach wie vor sehr kontrovers über die Rechtsnatur und den Status der EU.

Die herrschende Meinung innerhalb der europarechtlichen Stimmen bezeichnet die EU gegenwärtig als "Staaten- und Verfassungsverbund". Dadurch wird deutlich, dass die EU ihre Gewalt von den Mitgliedstaaten ableitet und letztere -- auch nach dem Vertrag von Lissabon -- unangetastet fortbestehen werden.

Zu ihrer dritten Frage gilt es abschließend noch zu bemerken, dass nur die Mitgliedstaaten die für einen Staat typische Kompetenz-Kompetenz aufweisen, also die Fähigkeit, über die eigenen Befugnisse umfassend selbst zu entscheiden. Über einen Austritt aus der EU könnten die Mitgliedstaaten alle der EU übertragenen Kompetenzen erneut an sich ziehen.

Für die EU gilt jedoch weiterhin das sog. "Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung". Dieses besagt, dass die EU ausschließlich über jene Befugnisse verfügt, die ihr zuvor explizit von den Mitgliedstaaten übertragen wurden.

4. Wurden in den Lissabonner Verträgen Rechtshoheiten der BRD aufgegeben
und wenn ja, welche?

Wie bereits in den Antworten zu Ihren vorangehenden Fragen geschildert, werden im Falle der Übertragung von Hoheitsrechten die entsprechenden Befugnisse nicht -- wie etwa Eigentum -- dinglich und absolut auf die EU übertragen. Das Bundesverfassungsgericht versteht unter der Übertragung von Hoheitsrechten vielmehr die Zurücknahme des sog. innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehls mit dem Ergebnis, dass in bestimmten Fällen nicht mehr das deutsche, sondern das europäische Recht zur Anwendung kommt. Letzteres ist das Kennzeichen des "offenen Verfassungsstaates".

Die von Ihnen erwähnten Rechtshoheiten befinden sich allerdings nach wie vor vollumfänglich bei der Bundesrepublik Deutschland. Deutschland ist nach wie vor souverän, muß aber solche Regelungen akzeptieren, in die es vorher durch seine Zustimmung zu den EU-Verträgen eingewilligt hat. Dadurch, dass durch den Lissabon-Vertrag das Prinzip der Mehrheitsentscheidung ausgeweitet wird, kann Deutschland natürlich auch überstimmt und gegen die deutsche Position können Verordnungen oder Richtlinien angenommen werden.

5. Wurden die Zuständigkeitsbereiche des Bundesverfassungsgerichts damit in irgendeiner Art und Weise verändert?

Durch den Vertrag von Lissabon sind keine nennenswerten Zuständigkeitsänderungen zu verzeichnen. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet weiterhin über die Vereinbarkeit von deutschem Recht und deutschen Rechtsakten mit dem GG, während der EuGH zur letztinstanzlichen Entscheidung über die Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht berufen bleibt.

Abschließend möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass ich das Vertragswerk von Lissabon als einen großen und notwendigen Schritt zur Erhaltung der Zukunftsfähigkeit der EU erachte. Gleichzeitig nimmt der neue Vertrag aber auch Rücksicht auf die Kompetenzen und Belange der Mitgliedstaaten und erhöht die demokratische Legitimation. Insbesondere die verbesserten Einflußmöglichkeiten der nationalen Parlamente bei der Entstehung von Verordnungen und Richtlinien begrüße ich mit Nachdruck. Deshalb habe ich als Abgeordneter des Deutschen Bundestages dem Lissabon-Vertrag am 24. April dieses Jahres mit voller Überzeugung zugestimmt. Er verbessert die derzeitige (Vertrags-) Situation sowohl mit Blick auf Effizienz, Transparenz und Demokratie erheblich.

Dass nun am vergangenen Freitag der Vertrag von den Iren in einem Referendum abgelehnt wurde, betrübt mich sehr. Dennoch gehe ich davon aus, dass es uns Europäern gelingen wird, gemeinsam einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise zu finden. Zur Reform der EU gibt es keine Alternative und ich bin zuversichtlich, dass die Inhalte des Lissabon-Vertrages Wirklichkeit werden können.

Bei aller im Einzelfall berechtigten Kritik sollte nicht vergessen werden, dass die EU ihre vornehmste Aufgabe -- nämlich die Sicherung des Friedens in Europa -- in den über fünfzig Jahren ihrer Existenz stets mit Bravour gemeistert hat. Dass sie diese Aufgabe auch künftig effektiv erfüllen kann, dafür setze ich mich ein.

Mit freundlichen Grüßen
M. Grosse-Brömer, MdB

Was möchten Sie wissen von:
Portrait von Michael Grosse-Brömer
Michael Grosse-Brömer
CDU