Frage an Michael Grosse-Brömer von Ulrich G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Grosse-Brömer,
zuerst Gratulation zu Ihrer neuen Aufgabe als Parlamentarischer Geschäftsführer und Ihnen persönlich viel Erfolg! Gut zu wissen, dass es jetzt eine direkte Verbindung von Brackel in das Zentrum der Deutschen Regierungsmacht gibt!
Anlässlich des Debakels zur 1. Lesung des Gesetzes zum Betreuungsgeld werden Ihnen und / oder Herrn Stefan Müller (CSU) unter der Seite " http://www.familien-schutz.de/unionsfraktion-opposition-fugt-parlamentarismus-schweren-schaden-zu " die folgenden Äußerungen zugeschrieben:
"Der Deutsche Bundestag soll Ort des Austauschs von Argumenten sein. Dieser vornehmsten Aufgabe des Parlaments hat sich die Opposition heute verweigert. Damit fügt sie der parlamentarischen Kultur in Deutschland einen schweren Schaden zu."
Und:
"Die Beschlussfähigkeit des Parlaments zu erhalten, ist nicht allein Aufgabe der jeweiligen Regierungsfraktionen, sondern liegt in der Verantwortung des gesamten Parlamentes und allen Demokraten. Die Koalition war jederzeit mehrheitsfähig."
Dies würde ich gern besser verstehen und bitte um Ihre Antworten:
1) Wenn der Deutsche Bundestag ein Ort des Austausches von Argumenten und dies die vornehmste Aufgabe des Parlaments sein soll - warum waren dann mehr als 100 Abgeordnete der Regierungsfraktion nicht anwesend und sehen dies offenbar nicht so?
2) Warum soll denn ausschliesslich die Opposition der demokratischen Kultur in Deutschland einen schweren Schaden zugefügt haben, wenn auch die Regierungsfraktion der Sitzung durch fehlende Anwesenheit keine Bedeutung zumaß?
3) Wenn die Regierungsfraktion jederzeit mehrheitsfähig war, warum war sie dann zur Lesung nicht vollständig präsent? Damit wäre das Parlament nach meinem Verständnis doch beschlussfähig gewesen und die Regierungsfraktion hätte das Gesetz in ihrem Sinne auf den Weg bringen können?
Mit freundlichen Grüßen,
Ulrich Grässel, Seevetal
Sehr geehrter Herr Grässel,
vielen Dank für Ihre freundlichen Zeilen anlässlich meiner Wahl zum Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag; über Glückwünsche aus der Nordheide freue ich mich natürlich besonders. Gern nehme ich auf Ihr Schreiben vom 21. Juni 2012 Bezug.
Es ist immer ein toller Anblick, wenn die Reihen des Plenarsaals im Reichstag bis auf den letzten Platz gefüllt sind. Im parlamentarischen Alltag jedoch kommt eine vollzählige Präsenz der Fraktionen im Plenum nicht immer zustande. Das ist aber nicht darauf zurückzuführen, dass Abgeordnete ihr Parlament als Ort des Austausches missachten. Es hat vor allem mit den vielen Funktionen zu tun, die ein Abgeordneter erfüllen muss.
Zudem gilt natürlich auch das Prinzip der Arbeitsteilung. Das heißt, Abgeordnete sind Mitglieder bestimmter Arbeitsgruppen, die sich thematisch mit einem bestimmten Politikbereich befassen. Gerade diese Abgeordneten sind dann im Plenum, wenn das von Ihnen zuvor erarbeitete Gesetz debattiert wird. Als Fachexperte bei der Entstehung eines Gesetzes mitzuwirken, heißt aber auch, an Ausschusssitzungen, Anhörungen und Abstimmungsrunden teilzunehmen, die manchmal parallel zu den Debatten im Plenum stattfinden können.
Ist ein Abgeordneter Berichterstatter für ein Gesetzesvorhaben, dient er ferner all jenen gesellschaftlichen Gruppen als Ansprechpartner, die ihre Interessen durch das Gesetz berührt sehen. Auch die Treffen mit diesen Gruppen finden oft während der Sitzungswoche statt. Schließlich ist ein Abgeordneter immer Repräsentant seines Wahlkreises. Viele Besuchergruppen reisen gern am Donnerstag oder Freitag einer Sitzungswoche an. Die Bürger aus dem Wahlkreis würden es nur schwer akzeptieren, dass „ihr“ MdB nicht an einer Diskussionsrunde teilnehmen kann, weil er im Plenum sitzen muss.
All diese Funktionen – wie z.B. Information der Öffentlichkeit, Aufnahme gesellschaftlicher Interessen, Mitwirkung an der innerfraktionellen Willensbildung – sind wichtig. Leider stehen all diese Funktionen auch in Konkurrenz zur ebenso wichtigen Präsenz im Plenum. Damit ein Parlamentarier seine Funktionen erfüllen kann, muss es ihm möglich sein, die Plenardebatte verlassen zu können, um anderen Verpflichtungen nachzukommen.
Auch wenn die Reihen im Reichstag einmal nicht bis auf den letzten Platz gefüllt sind, kommen zu einem Tagesordnungspunkt in der Regel Vertreter aller Fraktionen zu Wort. Somit ist sichergestellt, dass der Zuhörer auf der Besuchertribüne oder vor dem Fernseher die Positionen der Fraktionen erfährt, ihre Argumente prüfen – und sich somit ein Urteil bilden kann. Genau darauf kommt es letztlich an.
Deshalb wird auch grundsätzlich die Beschlussfähigkeit des Parlaments unterstellt, weil dessen Funktionsfähigkeit eine große Rolle spielt. Nur wenn die Beschlussfähigkeit des Parlaments angezweifelt wird, muss sie gesondert festgestellt werden.
Den Sitzungsabbruch am 15. Juni 2012 hat die Opposition erreicht, indem sie einem Tagesordnungspunkt ferngeblieben ist, bei dem es um ihren eigenen Antrag ging. Dieser Antrag hatte mit dem Betreuungsgeld überhaupt nichts zu tun. Die erste Lesung des Betreuungsgeldgesetzes stand erst zwei Stunden später auf dem Programm.
Die in diesem Zusammenhang aufgestellte Forderung der Opposition, dann hätten die Regierungsfraktionen eben mindestens mit 312 Abgeordneten im Plenum vertreten sein müssen, ist aufgrund des parlamentarischen Alltagsgeschäfts völlig weltfremd. Und das wissen die Oppositionsparteien auch! Ihre eigenen Abgeordneten haben ja größtenteils auch gefehlt! Aus gutem Grund ist also die Sicherung der Beschlussfähigkeit des Bundestages Gemeinschaftsaufgabe aller parlamentarischen Kräfte.
Alleine in der letzten Wahlperiode gingen 14.000 Drucksachen durch die Hände der Bundestagsmitglieder. Darunter waren rund 1.000 Gesetzesinitiativen; über 600 von ihnen wurden verabschiedet. Die Bewältigung dieses Arbeitspensums ist nur möglich, wenn man sich auf die anderen demokratischen Kräfte im Haus verlassen kann. Die Opposition hat für einen populistischen Knalleffekt wertvolles Vertrauen verspielt. Das ist – ich bleibe dabei – eine Beschädigung unserer parlamentarischen Kultur.
Ich kann akzeptieren, wenn die Opposition z.B. in Fragen der Kinderbetreuung anderer Meinung ist. Aber dann muss man sich im Plenum der Debatte stellen und Argumente sprechen lassen. SPD, Grüne und Linke haben sich der Debatte verweigert. Während unser Team auf dem Platz stand, ist die Mannschaft der Opposition einfach in der Kabine geblieben. Und nach Spielabbruch beschwert sich die Truppe noch, dass das Spiel ausgefallen ist.
Kurz nach dem vorzeitigen Ende der Sitzung frohlockte Jürgen Trittin von den Grünen per Twitter: „Betreuungsgeld ist abgewählt“. Ich glaube, dass sich Herr Trittin zu früh gefreut hat. Zumal ja überhaupt nicht über das Betreuungsgeld abgestimmt werden sollte.
Meiner Meinung nach wird mit solchen Aktionen nur Politikverdrossenheit bedient. Hängen bleibt das Bild, dass sich Parlamentarier lieber mit Geschäftsordnungsfinten beharken, als mit Argumenten in der Sache zu streiten. Damit hat die Opposition nicht nur sich selbst, sondern allen demokratischen Kräften im Parlament einen Bärendienst erwiesen.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Grosse-Brömer MdB