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Metin Hakverdi
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Frage von Norbert R. •

Ist der Pull-Effekt durch eine "Allianz der Willigen" zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge mit unserem Wohlfahrtsstaat kompatibel?

Sehr geehrter Herr Hakverdi,
die Bundesinnenministerin möchte die EU-Küstenstaaten mit der Aufnahme von Flüchtlingen durch eine "Allianz der Willigen" entlasten.
Der CDU-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Brinkhaus, hat auf die Regierungserklärung von O. Scholz am 15.12.2021 zum Thema Migration gesagt: "Man hat es nicht geschafft, die Menschen, die 2015/2016 zu uns gekommen sind, in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Es gibt zu viele Summen an Menschen, die in H4 sind." (18:45: https://www.youtube.com/watch?v=eYahfAAThfs).

Angesichts von 2,6 Millionen Menschen in Arbeitslosigkeit, 22 Mrd. EUR Defizit bei der B.Agentur f. Arbeit u. 7 Mrd EUR Defizit im Gesundheitswesen in 2021 sowie knapper bezahlbarer Wohnraum in den Großstädten, sollte man da die Aufnahme weiterer Flüchtlinge nicht eher begrenzen, um Bürger und öffentliche Kassen nicht weiter zu belasten? Erzeugt eine "Allianz der Willigen" nicht eher einen Pull-Effekt, der den Druck auf die Sozialbeiträge weiter erhöht?

MfG / R.

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Sehr geehrter Herr R.,

vielen Dank für Ihre Frage, ob die weitere Aufnahme von schutzsuchenden Migrant:innen im Rahmen der EU-Migrations- und Asylpolitik einen sogenannten „Pull-Effekt“ auslöse und deshalb zu begrenzen sei.

Die Regierungskoalition setzt sich für eine grundlegende Reform des Europäischen Asylsystems ein, um eine faire Verteilung von Schutzsuchenden in der EU zu erreichen. Der Koalitionsvertrag weist darauf hin, dass die Bundesregierung hierfür mit einer "Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten" vorangehen müsse. Dies solle dazu beitragen, dass andere EU-Länder mehr gemeinsame Verantwortung übernehmen und geltendes EU-Recht eingehalten werde. Die Bundesregierung will so einen Neuanfang in der europäischen Migrations- und Integrationspolitik mitgestalten.

Dabei sind auch die Erfahrungen aus der Vergangenheit zu berücksichtigen. Die Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel im September 2015, tausende Schutzsuchende nach Deutschland einreisen zu lassen, hat nicht zu einer dauerhaft erhöhten Zuwanderung geführt. Zu diesem Schluss kam eine Studie von Professor Jasper Tjaden und Professor Tobias Heidland. Ihre Untersuchung hat die Migrationsbewegungen und -absichten für die Jahre 2000 bis 2020 analysiert und mit anderen EU-Zielländern verglichen. So gingen die erhöhten Migrationszahlen in den Jahren 2014 und 2015 auf eine Entwicklung zurück, die sich bereits seit 2010 abzeichnete. Hinzu seien Finanzierungslücken bei der Versorgung von Flüchtlingen in den Erstaufnahmeländern im Nahen Osten gekommen. Jedoch gingen die Zuwanderungszahlen nach 2015 sogar schneller als in andere EU-Zielländern zurück. Daher ist schon für den von Ihnen angesprochenen Zeitraum 2015/2016 nicht von einem „Pull-Effekt“ auszugehen.

Weiterhin werfen Sie die Frage auf, ob die Aufnahme von Schutzsuchenden zu begrenzen sei, um die Bürger:innen und öffentliche Kassen „nicht weiter zu belasten“. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ermittelte, dass im zweiten Halbjahr 2018 über die Hälfte der Geflüchteten einer Erwerbstätigkeit nachging, eine Bildungseinrichtung besuchten oder an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme teilnahm. Für diese Entwicklung sollte bedacht werden, dass der schrittweise Rückbau von rechtlichen Hürden die Integration von Schutzsuchenden auf dem Arbeitsmarkt positiv beeinflusst.

Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Aufnahme von Schutzsuchenden in erster Linie um eine Frage der humanitären Verantwortung Deutschlands handelt. Das Grundgesetz, die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und das Europarecht verpflichten uns zum Schutz von Geflüchteten. Vor diesem Hintergrund strebt die Regierungskoalition eine faire Verteilung von Verantwortung und Zuständigkeit innerhalb der EU an. Dazu gehört die Vereinbarung von besseren Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren und bei der Integration in den EU-Staaten. Dies soll auch irreguläre Migration wirksam reduzieren und die Ursachen für lebensgefährliche Flucht bekämpfen. In der Vergangenheit waren diese europäischen Lösungen zwischen den EU-Mitgliedsländern schwer zu erreichen. Auch deshalb will die Bundesregierung mit einer "Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten" vorangehen und so wichtige Weichen für eine Neuausrichtung in der europäischen Migrations- und Asylpolitik legen.

Mit freundlichen Grüßen
Metin Hakverdi

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