Frage an Memet Kilic von Thomas P. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Kilic,
als am politischen Geschehen interessierter Mitbürger verfolge ich die hoch spannende Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen. Wie Ihnen ja sicherlich bekannt ist, hat die Petition zum bedingungslosen Grundeinkommen von Susanne Wiest eine riesengroße Welle der Zustimmung ausgelöst. Diese Welle hat tatsächlich sehr viele Menschen politisiert und eine enorme Energie freigesetzt.
Wie Sie der Pressemeldungen der letzten Tage entnehmen können, wird die Debatte um den Sozialstaat von konservativen Vertretern in eine Richtung gedrängt, die mich sehr beunruhigt. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat meiner Meinung nach ein politisches Erdbeben ausgelöst, welches eine Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen notwendig macht.
Für mich persönlich ist diese Debatte aber auch aus einem bestimmten Grund notwendig. Wenn Sie die demographische Entwicklung in Deutschland betrachten, dann stellen Sie fest, dass schon heute jedes dritte Kind Eltern mit Migrationshintergrund hat. OECD-Studien zum Bildungssystem haben festgestellt, dass die Herkunft über den Schulerfolg entscheidet und in keinem anderen Land der Welt entscheidet der Schulerfolg über den weiteren Erfolg im Berufsleben als in Deutschland. Wenn Sie die Bemühungen um Chancengleichheit seit den 60er Jahren anschauen, werden Sie feststellen, dass der bildungspolitische Erfolg nur mäßig ist.(siehe Bildungsparadox) Selbst Ralph Dahrendorf, ein Verfechter der Idee von der Chancengerechtigkeit, hatte das Scheitern dieser politischen Aufgabe zugeben müssen und auch er plädierte zum Schluss für ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Sehr gerne würde ich hierzu Ihre Meinung hören. Sind Sie der Meinung, dass das politische Scheitern im Bereich der Chancengleichheit/Chancengerechtigkeit doch viel mehr mit der Tatsache zu tun hat, dass es nicht genügend sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen gibt?
Sehr geehrter Herr Pain,
die Forderung nach einem Grundeinkommen erwächst aus dem Anspruch, jedes Mitglied der Gesellschaft zur Teilhabe zu befähigen. Natürlich ist dafür mehr notwendig als nur Geld, insbesondere Bildung und eine gesellschaftlich anerkannte sinnvolle Beschäftigung. Und neben Einkommen, Bildung und (Erwerbs-)Arbeit gibt es noch weitere Dimensionen der Teilhabe, die notwendig sind: zum Beispiel Zugang zur Gesundheitsversorgung, eine Wohnung oder politische Beteiligungsrechte. Geld ist also nicht alles, aber Menschen ohne oder nur mit geringem Einkommen sind von vornherein aus der Gesellschaft ausgeschlossen.
Das gilt auch für Bildungschancen. Ob jemand studiert oder nicht, hängt hierzulande so stark wie in kaum einem anderen OECD-Land von der sozialen und ethnischen Herkunft ab. Bildungschancen und Bildungsbenachteiligung werden de facto vererbt. Dieser Zusammenhang beschreibt eine tiefgreifende Ungerechtigkeit: Die Chancen auf Teilhabe an akademischer Bildung werden für junge Menschen aus armen sowie bildungsfernen Elternhäusern eklatant verletzt. Die stärksten Argumente für ein bedingungsloses Grundeinkommen sind bürgerrechtlich-republikanisch: sie beziehen sich nicht auf eine nationale Schicksals- und Solidargemeinschaft, sie gründen Subventionen nicht auf der Zugehörigkeit zur produktiven Klasse, sondern begründen Subventionen auf dem BürgerInnenstatus.
Je knapper das Gut Erwerbsarbeit ist und je voraussetzungsvoller der Zugang zu guter Arbeit wird, desto wichtiger ist es, nicht nur einzelne sozialpolitische Maßnahmen für die vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen oder auf ihm Gescheiterten zu ergreifen, sondern ein umfassendes System für den Ein- und Austritt aus dem Arbeitsmarkt aller Menschen im Lebensverlauf zu schaffen. Von den KritikerInnen, die so gerne fordern und fördern, „Stilllegungsprämie“ genannt, lässt sich das Grundeinkommen als ein Mittel ausgestalten, um den Übergang aus und in den Arbeitsmarkt in allen Lebensphasen und für alle BürgerInnen offen zu halten. Damit könnte eingelöst werden, was seit langem als Notwendigkeit lebenslangen Lernens und einer investiven „Bildungs- als Sozialpolitik“ erkannt wurde, bisher jedoch nicht innerhalb des alten Sozialsystems instrumentiert werden konnte.
Mit freundlichen Grüßen
Memet Kilic