Frage an Matthias Zimmer von Ulrich M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Dr. Zimmer,
besten Dank für Ihre Antwort auf meine Fragen zum Rederecht im Bundestag.
Allerdings halte ich es gerade nicht für die Aufgabe einer Fraktion, eine sprech- und handlungsfähige Legislative darzustellen. Das ist ganz klar Aufgabe des gesamten Parlamentes!
Ist es nicht eher so, dass sich die von Ihnen vorgestellte Denkweise leider bei allen Parteien als selbstverständlich eingebürgert hat, wobei übersehen wird, dass die Parteien gem. Verfassung nur ein MITwirkungsrecht haben? Aber Parteien sind nicht die Legislative, sie stellen allenfalls Mitglieder derselben.
Genau so verhält es sich mit dem Fraktionszwang. Dass bei hochkomplizierten Sachverhalten Abgeordnete dem Votum von Fachkollegen folgen, kann ich nachvollziehen. Aber es gibt doch genügend Sachverhalte, die wohl jeder Abgeordnete versteht und beurteilen kann. Ist es in Ihren Augen richtig, dass Abgeordnete z. B. öffentlich erklärten, sie seien gegen das Steuergeschenk für Hoteliers, dann aber im Bundestag dafür stimmten? Sind Sie der Meinung, dass in diesem beispielhaften Fall wirklich Fraktionsdisziplin nötig war?
Mit freundlichem Gruß
Ulrich Müller
Sehr geehrter Herr Müller,
bei Ihrer Ausführung, es sei Aufgabe des gesamten Parlaments, eine sprech- und handlungsfähige Legislative darzustellen, vermischen sie zwei Dinge. Das gesamte Parlament hat die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren und die politische Meinungsbildung abzubilden. Aber es gibt ja einen guten Grund, warum im Parlament (meines Wissens in allen demokratisch gewählten Parlamenten) zwischen Regierungsparteien und Oppositionsparteien unterschieden wird. Die Regierungsparteien haben zumeist durch einen Vertrag sich auf eine Reihe inhaltlicher Punkte geeinigt, die sie als parlamentarische Mehrheit in einer Legislaturperiode umsetzen wollen. Je mehr Parteien in einer solchen Koalition sind, desto mehr Kompromisse müssen geschlossen werden. Das bedeutet, dass ich nicht unbedingt jeden einzelnen Punkt des Koalitionsvertrages mit stürmischer Begeisterung begrüßen muss. Sehr wohl muss ich aber abwägen, ob meine mangelnde Begeisterung in einem Fall (z.B. der von Ihnen erwähnten Senkung der Mehrwertsteuer für Beherbergungsbetriebe) dramatisch genug ist, dem ganzen Koalitionsvertrag nicht zuzustimmen. Wenn ich ihm aber als Paket zugestimmt habe braucht es auch keine Fraktionsdisziplin mehr, denn ich halte mich ja lediglich an eine vorher getroffene eigene Entscheidung. Persönlich finde ich es dann auch als durchaus unangemessen, sich in der Öffentlichkeit zu erklären, man habe das ja nicht gewollt. Das ist Populismus, wenn man dem Koalitionsvertrag im Übrigen sonst zugestimmt hat.
Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit, so steht es im Grundgesetz. Sie haben ein gewisses Programm, das sie umsetzen wollen. Das machen sie vor allem im parlamentarischen Prozess. Ich kenne kein demokratisch gewähltes Parlament in dem nicht auch bei den Parlamentariern die Parteizugehörigkeit die Stimmentscheidung informiert. Aber eben nicht determiniert, und deswegen wirken die Parteien nur mit in der Willensbildung, sie legen sie nicht fest. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Artikel 21 GG (Mitwirkung der Parteien an der Willensbildung) und Artikel 38 GG (freies Mandat) habe ich immer als produktiv empfunden. Einer Auflösung dieser produktiven Spannung in die eine oder andere Richtung stehe ich eher skeptisch gegenüber. In der einen Richtung hätten wir das Modell sozialistischer Parlamente mit einem Führungsanspruch der Partei, in die andere Richtung völlig unberechenbare parlamentarische Mehrheiten, in der stabiles Regieren nicht möglich ist (und deshalb auch meines Wissens von keiner Demokratie auf der Welt so praktiziert wird).
Schließlich: Parteien sind ja nicht nur die organisatorischen Vehikel in einer Demokratie, sondern erheblich mehr. Sie stellen Grundorientierungen dar, die auf bestimmten Menschenbildern beruhen. Das gibt ihrem politischen Wollen Basis und eine Berechenbarkeit. Dort, wo es eine solche Grundorientierung nicht gibt, siegt der Affekt, der Augenblick. Das ist dann nicht mehr als die Kapitulation der Verantwortung vor dem Zeitgeist, der Mode. Das wäre aus meiner Sicht das Ende einer verantwortlichen, auf das Gemeinwohl ausgerichteten Politik. In meinem Interesse liegt das jedenfalls nicht.
Mit besten Grüßen
Matthias Zimmer