Frage an Matthias Bartke von Andreas B. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Dr. Bartke,
Im zweiten Leitsatz zum Urteil vom 9. Februar 2010 spricht das Bundesverfassungsgericht dem Grundrecht aus Artikel 1 Abs. 1 GG i. V. m. Artikel 20 Abs. 1 GG einen unverfügbaren Anspruch zu. Unverfügbar bedeutet das weder der Einzelne dieses Recht weggeben kann, noch der Staat dieses Recht nehmen darf.
Das Existenzminimum umfasst die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 135). Der gesetzliche Leistungsanspruch muss stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers decken (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137).
Sanktionen nach dem SGB II führen dazu, dass das vom Gesetzgeber festgelegte Existenzminimum für den Zeitraum der Sanktion unterschritten wird. Artikel 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Artikel 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss (BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 120) und zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen ist (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 140).
Handelt es sich demzufolge bei Leistungen nach dem SGB 2 um freiwillige Leistungen?
Muss ein hilfebedürftiger Mensch, um ein menschenwürdiges Existenzminimum zu erhalten, Leistungen nach dem Grundgesetz beantragen?
Sehr geehrter Herr Böhme,
haben Sie vielen Dank für Ihr Schreiben, in dem Sie sich auf zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichtes zum SGB II beziehen.
Ich bin keineswegs der Überzeugung, dass es sich bei Leistungen nach dem SGB II um freiwillige Leistungen handelt bzw. handeln sollte. Stattdessen teile ich die Auffassung, dass jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zuzusichern sind, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Bei der Ausgestaltung und Bewertung gibt es zwar einen staatlichen Spielraum, eine Überdehnung dieses Spielraumes sehe ich allerdings als bedenklich an. Eine Reduktion der Alg II-Leistungen auf Null - wie dies derzeit vor allem bei Jugendlichen geschieht - halte ich für vollkommen verfehlt. Dass Sanktionen zuweilen zum Verlust der Wohnung führen, ist in meinen Augen inakzeptabel und muss unbedingt vermieden werden. Das Gleiche gilt bei einer Reduktion der Bedarfe für Unterkunft und Heizung.
Insgesamt ist das Sanktions-System des Alg II zu kompliziert und zu intransparent. Aus diesem Grund widmen wir uns dem Thema mit Hochdruck. Schon im letzten Jahr hat sich eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe gegründet, die sich der Rechtsvereinfachung im SGB II widmet.
In diesem Rahmen wurden vorliegende Forschungsergebnisse und Rückmeldungen aus der Praxis bewertet, nicht nur um Vorschläge für die notwendigen Rechtsvereinfachungen zu erarbeiten. Auch grundsätzliche Veränderungen der Sanktionspraxis, bspw. für die unter 25-Jährigen, sind geplant.
Ich gehe davon aus, dass wir das Sanktionssystem des SGB II im kommenden Frühjahr überarbeitet und deutlich verbessert haben werden.
Mit freundlichen Grüßen
Matthias Bartke