Martina Michels
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Frage von Dietrich B. •

Frage an Martina Michels von Dietrich B. bezüglich Verbraucherschutz

Sehr geehrte Frau Michels,

angesichts einiger aktueller Entwicklungen (Irland, Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann) habe ich zwei Fragen(komplexe) an Sie und die EU-Kandidaten der LINKEN:

(1)
Wie positionieren Sie sich angesichtes des widersprüchlichen Verhältnisses von Mehrheit und Richtigkeit (über das sich wohl zu philosophieren lohnt) zu Volksentscheiden in der EU?.
(Negativ(st)es Beispiel: Auch die NSDAP hat - unter unterstützter und strategischer Schaffung der dafür notwendigen Voraussetzungen - einmal eine Mehrheit im Deutschen Reich gehabt …)
Halten Sie es für richtig, in Irland einen zweiten Volksentscheid zum Lissabon-Vertrag durchzuführen (und nach einem zweiten evtl. einen dritten ...)?

(2)
Einstimmigkeitsentscheidungen kamen in der Verblichenen (DDR) u.a. deshalb zustande, weil - oft auch indirekt - gefragt wurde:
Stimmst Du damit ODER damit ODER damit ODER … überein?
Wenn ja (wenn Du also auch nur einem der Punkte zustimmst), dann kannst Du auch insgesamt zustimmen. (Ausdruck dafür ist u.a. die berühmt-berüchtigte Frage: Bist Du für den Frieden? Heute spricht man dann wohl von einem "Schritt in die richtige Richtung" und verdrängt das Krötenschlucken.)
Richtigerweise hätte es wohl heißen müssen:
Bist Du damit UND damit UND damit UND … einverstanden, dann stimme zu. Wobei die einzelnen Punkte, im Gegensatz zur ODER-Frage, nicht gleichgewichtet sind und die "weniger wichtigen" - im Sinne notwendiger Kompromisse - zur Diskussion stehen können.
Angesichts der Pauschalschelte von Frau Dr. K. nach dieser längeren Vorrede die Fragen:
Welches wird Ihr Maßstab sein, Entwürfen zuzustimmen oder sie abzulehnen?
Gibt es für Sie nicht verhandelbare K.O.-Kriterien ("Essentials"); welche Kröten werden Sie keinesfalls schlucken?
Welches Ihrer Essentials hat Frau Dr. K. mit Ihrer Befürwortung des Lissabon-Vertrages verletzt?
Was halten Sie in diesem Zusammenhang von "Fraktionszwang" bzw. "Fraktionsdisziplin"?

Vielen Dank im voraus für eine Antwort (bis 06.06.2009) und
beste Grüße

Dietrich Bicher

Martina Michels
Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Bicher,
ich bedanke mich für Ihr Interesse und beantworte Ihre an mich gestellten Fragen gern.

zu1.:
Die Einführung von Volksentscheiden und anderer Formen von direkter Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern an politischer Entscheidungsfindung halte ich für wichtige Elemente der Demokratie.
Sinkende Wahlbeteiligung und so genannte Politikverdrossenheit sind auch Ergebnis vollkommen ungenügender Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen. Die Einführung von Elementen direkter Demokratie können natürlich die politischen, sozialen und ökonomischen Mängel unserer Gesellschaft nicht beheben. Sie erweitern aber den Einfluss der Bevölkerung auf politische Entscheidungen – und das ist dringend notwendig.

Der europäische Integrationsprozess war von Beginn an durch einen gravierenden Mangel an Demokratie gekennzeichnet. Das politische Projekt der immer engeren Zusammenarbeit der europäischen Staaten und Völker, das allen eine gemeinsame Zukunft in Frieden, Stabilität und Wohlstand garantiert, leidet bis heute daran, dass es zuvörderst von den Regierungen sowie den politischen und wirtschaftlichen Eliten gestaltet wird. Von einem „Europa der Bürgerinnen und Bürger" ist die EU leider noch weit entfernt.
Im Verlauf ihrer inzwischen fünfzigjährigen Geschichte hat die Europäische Union schrittweise an Kompetenzen und Einfluss gewonnen. Etwa 50 Prozent der nationalen Gesetzgebung ihrer 27 Mitgliedstaaten werden heutzutage durch die EU vorbestimmt. Genau diesem Umstand wird aber die Art und Weise, wie Entscheidungen auf europäischer Ebene zustande kommen, nicht gerecht. Noch immer wird in nicht unerheblichem Umfang von den Regierungen auf klassische Geheimdiplomatie gesetzt. Der europäische Parlamentarismus steckt, gemessen am Kompetenzumfang der EU, nach wie vor in den Kinderschuhen. Und eine unmittelbare Partizipation der Bürgerinnen und Bürger selbst gibt es bisher überhaupt nicht. Wir setzen uns ein für einen umfassenden Ausbau der Partizipationsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger an europäischen Entscheidungen ein. Die Europäische Bürgerinitiative, wie sie 2003 vom Verfassungskonvent vorgeschlagen worden war, muss endlich verwirklicht werden. Und: wir wollen darüber hinaus dafür streiten, dass künftig jede Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU nicht nur per Ratifikation durch die Parlamente erfolgt. Sie bedarf vielmehr der zusätzlichen Legitimation durch ein europaweites Referendum.

Natürlich setzt dies ein hohes Maß an politischer Verantwortung der jeweiligen Handlungs- und Verantwortungsträger voraus in Bezug auf umfassende objektive Aufklärung und Information der Bevölkerung. Verbesserung der Transparenz und Durchschaubarkeit der Prozesse sind dabei Aufgabe der Politik.
Dazu gehört im Übrigen auch, dass festgestellte Mehrheiten in Volksentscheiden, sei es zu Fragen der Einführung von Religion als Pflichtfach (Volksentscheid 2009 in Berlin) oder zum Lissabon-Vertrag in Irland, akzeptiert werden müssen. In diesem Sinne ist es für mich nicht akzeptabel, die irische Bevölkerung nach ihrem Nein wieder (und wieder…) zu den Urnen zu rufen.

zu2.:
Maßstab für mein konkretes Agieren werden die in unserem Wahlprogramm getroffenen inhaltlichen Zielstellungen sein, damit nach der Wahl auch gilt, was vor der Wahl gesagt wurde.
Ich werde z.B. keine Zustimmung geben zu Kriegseinsätzen oder zu Beschlüssen, die militärische Aufrüstung bedeuten würden. Hingegen unterstütze ich Vorhaben, die zu mehr Demokratie, ökologischer Nachhaltigkeit und sozialerer Ausrichtung der EU führen.
Zu den Besonderheiten des Europäischen Parlaments gehört die stärkere Ausrichtung der parlamentarischen Arbeit auf Sachthemen und die dazu gehörende fraktionsübergreifende Suche nach entsprechenden Mehrheiten. Im EP stehen sich nicht, wie in nationalen Parlamenten, Regierungs- und Oppositionsfraktionen gegenüber. Das Parlament als Ganzes muss sich zur Politik der EU-Kommission verhalten. Deshalb wird entsprechend der jeweiligen Themen und Problemstellungen nach politischen Mehrheiten gesucht. Das stellt nach meiner Einschätzung einen großen Vorteil für die Arbeit an der Umsetzung politischer Zielstellungen dar.

Die gegenwärtige linke Fraktion im EP ist ein konföderaler Zusammenschluss linker europäischer Parteien. Die Linksfraktion des Europäischen Parlamentes "Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke" (GUE/NGL) setzt sich aus 41 Abgeordneten von 17 politischen Parteien bzw. Bewegungen aus 13 Ländern eines breiten politischen Spektrums der europäischen Linken zusammen. Die Abgeordneten der nordischen Länder bilden eine eigenständige Gruppe innerhalb der Fraktion, die NGL. Sie ist ein fester, integraler Bestandteil der Fraktion.
Seit 1994 betrachten die teilnehmenden Parteien die Fraktion als Forum der Zusammenarbeit zwischen den verschiedensten Mitgliedern, bei der jedes Mitglied seine eigene unabhängige Identität und seine Treue zu eigenen Positionen bewahren kann.

Zu Ihrer Frage zu Frau Dr. K.:
Die Aufstellung der Kandidaten für die Bundesliste zu den Europawahlen erfolgte satzungsgemäß auf einem Bundesparteitag. Alle Bewerberinnen und Bewerber (mehr als 60 übrigens) hatten dabei die gleichen Möglichkeiten, für ihre jeweiligen Vorstellungen zu werben. In einem demokratischen Wahlverfahren haben sich die Delegierten zu jedem einzelnen Platz für die 30 Kandidatinnen und Kandidaten entschieden. Die Bundesliste für die Europawahlen ist somit Ergebnis der souveränen Entscheidung des höchsten Organs unserer Partei. Auch hier gelten übrigens die gleichen Maßstäbe wie zu oben beschriebenen demokratischen Entscheidungen: Mehrheiten sollten akzeptiert und anerkannt werden.

Ich hoffe, Ihre Fragen damit beantwortet zu haben.
Viele Grüße
Martina Michels