Frage an Margit Wild von Kevin H. bezüglich Bildung und Erziehung
Offene und gebundene Ganztagsschulen: Das Ende von Vereinen?
Ich vermisse in Ganztagsschulen eine Erziehung hin zur verantwortungsvollen Freizeitgestaltung: Wie soll ein Schüler, der zwischen 16 und 18 Uhr seine Schule verlässt, 30 Minuten auf den Bus wartet, 30 Minuten mit diesem fährt und dann noch nicht einmal zu Abend gegessen hat, Freizeit in der Natur oder in Jugendeinrichtungen verbringen? Im deutschen Winter gehen wir im Dunkeln zur Schule und kommen, nach ganztägigem Unterricht, im Dunkeln heim.
Für begabte sozial aktive Schüler, die bisher nebenbei in vielen Vereinen aktiv sind, wird sich die Möglichkeit einer solchen gesellschaftlichen Teilnahme aus Mangel an Zeit verschließen.
Geht ein nicht wünschenswerter gesellschaftlicher Wandel mit der Einführung von Ganztagsschulen einher?
Wolfgang Himmler, Kevin Bernhard
Klasse 10b
Gymnasium Vilshofen
Sehr geehrter Herr Himmler, sehr geehrter Herr Bernhard,
ich bedanke mich für Ihre Frage auf abgeorndetenwatch.de. Zunächst möchte ich klarstellen, dass ich Ihre Position, Ihre Kritikpunkte und Sorgen sehr gut nachvollziehen kann. Sie sorgen sich vor allem um den Erhalt des Vereinslebens bzw. im Allgemeinen der Freizeitgestaltung von Schülerinnen und Schülern an Ganztagesschulen.
Dazu möchte ich Ihnen Folgendes mit auf den Weg geben:
Die Ganztagesschule, wie sie in Bayern praktiziert wird, entspricht nicht meiner persönlichen Vorstellung und den Konzepten der bayerischen Sozialdemokratie. Sie ist als "offene Ganztagesschule" ein Ausdruck widerwilliger Umsetzung von modernen pädagogischen Konzepten, denen sie aber nicht im Ansatz gerecht wird. Den Unterricht und die Studenplangestaltung an offenen Ganztagesschulen brauche ich Ihnen nicht näher zu erläutern; diese sind Ihnen aus eigener alltäglicher Erfahrung gut bekannt.
Ich setze mich gemeinsam mit meiner Fraktion für eine Neuausrichtung der bayerischen Schulen ein. Dazu haben wir ein Gemeinschaftsschulkonzept entwickelt, das als elementaren Bestandteil die gebunde Ganztagesschule beinhaltet. Nur an einer gebundenen Ganztagesschule ist ein rhythmisiertes Lernen möglich, d. h. ein ausgewogenes Programm, das Unterricht, Lernphasen, Ruhe-, Freizeit- und Erlebnisphasen miteinander in Einklang bringt. In der Tat werden auch nach diesem Konzept die Schülerinnen und Schüler länger als bisher gewohnt an den Schulen bleiben. Ein zurück zum "Sechs-Stunden-Tag" wird es m. E. nicht mehr geben (können). Allerdings kann an der gebundenen Ganztagesschule den Freizeit- und Erholungsbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler besser Rechnung getragen werden, als dies aktuell der Fall ist. Die europäischen Vorreiter auf diesem Gebiet - Skandinavien, aber auch Frankreich - zeigen, wie man eine Ganztagesschule richtig ausrichtet. Es soll nicht allein der Lernaspekt im Vordergrund stehen, sondern auch eine individuelle Freizeitgestaltung, die vom Engagement in gesellschaftlichen Projekten, über Musikerziehung, Sport, Naturgenuss bis hin zur selbständigen Gestaltung der Freizeitphasen reicht. Will man dieses Konzept in Bayern umsetzen, so muss man auf die bestehenden Vereinsstrukturen Rücksicht nehmen. Diese leisten wertvolle Dienste an unserer Gesellschaft und dürfen nicht quasi als "Kollateralschaden" der Ganztagesschule ihres Fundaments - der jungen Generation - beraubt werden. Die Ganztagesschule bietet allerdings vielfältige Möglichkeiten, Vereine in den Alltag der Schülerinnen und Schüler miteinzubinden. So sollten die Schulen darauf achten, dass die Vereine vor Ort ihre Aktivitäten in Abstimmung mit den Lern- und Freizeitphasen anbieten können. Alle Beteiligten - Schülerinnen und Schüler, Schulen und Vereine - werden von einer engen Kooperation profitieren. Die echte Ganztagesschule stellt in meinen Augen keine Bedrohung für die Vereine dar, sondern eine große Chance, auf sich aufmerksam zu machen und Nachwuchs zu gewinnen!
Über die gesamtgesellschaftliche Bedeutung einer modernen Ganztagesschule wurde viel geschrieben, gesagt und gestritten. Für mich steht fest, dass die gebundene Ganztagesschule eingebettet in ein pädagogisch solides Gemeinschaftsschulkonzept einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit und zur guten Bildung der bayerischen Schülerinnen und Schüler leisten kann. Das gegenwärtige stark selektive Schulsystem hat sich überlebt; dies ist auch die überwiegende Meinung der Fachleute. Flexibilität, Durchlässigkeit, Chancengerechtigkeit können nur durch einen - behutsamen und wohl druchdachten - Systemwechsel im Bildungswesen garantiert werden. Zu diesem gehört auch ein sinnvolles, pädagogisch wertvolles und mit Blick auf Vereine und Freizeitgestaltung angemessen gestaltetes Ganztagesschulkonzept.
Auf diese Weise kann ein gesellschaftlicher Wandel erreicht werden. Entgegen Ihrer zuletzt gestellten Frage wird er aber ein wünschenswerter sein, der Zusammenhalt, Solidarität, Engagement und soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund rückt.
Ich hoffe, Ihre Frage zu Ihrer Zufriedenheit beantwortet zu haben, und freue mich über alle weiteren Fragen und Anregungen. Für Ihre Bildungslaufbahn wünsche ich Ihnen alles Gute!
Mit freundlichen Grüßen
Margit Wild, MdL