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Frage von Jens E. •

Frage an Lothar Binding von Jens E. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrter Herr Binding,

innerhalb der SPD gibt es keine gemeinsame Linie über den Umgang mit den Hartz-Reformen. Wie ist Ihr Standpunkt? Sind Sie auch der Meinung wie Herr Beck, dass diejenigen, die lange in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, das ALG I länger beziehen sollen als diejenigen, die nur kurze Zeit Beiträge gezahlt haben? Das wäre doch nur gerecht!

Und was ist Ihre Meinung zur CDU, die auf dem Leipziger Parteitag genau das beschlossen hat, was Herr Beck jetzt fordert, und nun über die SPD herfällt? (Ehrlicherweise muss man sagen, dass Herr Beck damals den CDU-Parteitagsbeschluss kritisiert hat)

Mit freundlichen Grüßen
Jens Erler

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Erler,

vielen Dank für Ihre Frage zum viel diskutierten und sozialpolitisch sehr wichtigen Thema Arbeitslosengeld I.
Zunächst möchte ich Ihre Frage zu den Beschlüssen der CDU beantworten, weil die gegenwärtig schmerzhaft geführte Diskussion auf einen gravierenden Denkfehler der CDU-Bundestagsfraktion in der Vergangenheit zurückgeht. Dabei ist es kompliziert zu erkennen, wie die heutigen Differenzen zwischen Reden von Ministerpräsident Rüttgers und Handeln der CDU- Fraktion überbrückt werden sollen. Die CDU spricht sich für eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus. Sie will die höheren Ausgaben durch geringere Auszahlungen für Jüngere „aufkommensneutral“ gegenfinanzieren. Eine derartige Regelung würde praktisch bedeuten, dass jüngere Menschen gegenüber älteren im Anspruch auf Arbeitslosengeld I im Vergleich zur heutigen Situation benachteiligt würden. Es bleibt bisher unbegründet, wieso z.B. ein junges Paar mit Kindern in der gleichen Situation schlechter gestellt werden soll, als ein älterer Arbeitnehmer ohne Kinder.

Dies ist eine der Folgen historischer Fehlentscheidungen: Im Jahr 1985 hatte die Regierung Kohl, die Bezugszeiten von ALG I – einer Versicherungsleistung – von 12 auf 32 Monate angehoben -trotz steuerfinanzierter Arbeitslosenhilfe. Das war sozial- und arbeitsmarktpolitisch die Langzeitvorbereitung eines Desasters. Damals hat die IG-Metall dagegen geklagt, weil sie gesehen hat, dass diese Gesetzgebung zu Altersdiskriminierung am Arbeitsplatz führt und die Kosten von „Freisetzungen“ von den Unternehmen in die Sozialkassen schiebt. So ist es auch gekommen. Diese Verwerfungen mussten zwingend korrigiert werden, weil sie sich negativ auf den Arbeitsmarkt, auf die Lohneinkommen, auf die Rentenfinanzierung, auf das Gesundheitssystem und leider auch auf den Staatshaushalt ausgewirkt hatten.

Diese Mammutaufgabe wurde mit der Agenda 2010 erstmals aufgegriffen. Die Agenda 2010, also die Tagesordnung bis zum Jahr 2010, hat das Fundament gelegt, um die großen Sozialsysteme wieder zu stabilisieren und den Staatshaushalt so schnell wie möglich, also sehr langsam, in Ordnung zu bringen.
Sie sprechen vom „Umgang mit den Hartz Reformen“. Zur Erinnerung sind nachfolgend diese Reformen ultrakurz dargestellt:

Hartz I ab 1. Januar 2003: Erstes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
Förderung der beruflichen Weiterbildung durch die Arbeitsagentur (FbW), Einführung des Bildungsgutscheins, des Unterhaltsgeld der Arbeitsagentur, sowie der Zeitarbeit mit Personal-Service-Agenturen (PSA)

Hartz II ab 1. Januar 2003: Zweites Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
Regelung der Beschäftigungsarten Minijob und Midijob, Ich-AG, Einrichtung von Job-Centern

Hartz III ab 1. Januar 2004: Drittes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
Restrukturierung und der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit in die Bundesagentur für Arbeit

Hartz IV ab 1. Januar 2005: Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
Zusammenführung der steuerfinanzierten Arbeitslosenhilfe und steuerfinanzierten Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) zum Arbeitslosengeld II bei der Agentur für Arbeit. Das bisherige beitragsfinanzierte Arbeitslosengeld wird zum beitragsfinanzierten Arbeitslosengeld I.

Es handelt sich also um ein großes Bündel bestimmter Maßnahmen, die wir unter dem Begriffspaar Fördern und Fordern zusammenfassen. Über fast alle Punkte sind wir uns einig, jedoch bei dem letzten Punkt: Dauer der Zahlung von Arbeitslosengeld I., gibt es unterschiedliche Auffassungen. Und dabei sind zwei unterschiedliche Auffassungen gleichwohl „richtig“ und verständlich:

Die Idee von Kurt Beck, die Bezugszeit für das Arbeitslosengeld I für ältere Menschen zu verlängern und dafür zusätzliche Mittel zu generieren, ohne es bei den jüngeren einzusparen, ist richtig, weil damit vielen geholfen werden kann und bestimmte Ängste gemildert werden können. Ich begrüße die Überlegung in diesem Vorschlag, die Jüngeren bei der Arbeitslosenversicherung nicht zu benachteiligen. Denn sozialdemokratisch ist, dass diejenigen, die in unserer Gesellschaft Hilfe brauchen, diese Hilfe auch bekommen. Aus diesem Grund ist die Arbeitslosenversicherung eine Risikoversicherung und keine Ansparversicherung, das soll auch so bleiben – für Jung und Alt.

Hierbei handelt es sich um ein Konzept, das auf dem Bundesparteitag der SPD Ende Oktober von den Delegierten diskutiert und abgestimmt werden soll. Die konkrete Ausgestaltung des Vorschlags liegt also erst nach dem Bundesparteitag vor. Anschließend wird sich die SPD-Fraktion im Bundestag überlegen, welche gesetzgeberischen Schritte mit dem Koalitionspartner möglich sind.

Die Idee, mit den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 den Bezug von Arbeitslosengeld I von früher maximal 32 auf 12 Monate zu verkürzen, ist auch richtig, weil damit ein Trend zur vorzeitigen Aussteuerung älterer Arbeitnehmer gestoppt werden sollte und glücklicherweise gestoppt wurde. Über 55-Jährige bekommen heute noch 18 Monate ALG I ausgezahlt.

Unser Argument für die Notwendigkeit der Umsetzung der Reformen am Arbeitsmarkt hat sich bewahrheitet. Denn Arbeitgeber haben früher vorschnell Entlassungen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorgenommen, um sie über den Weg Abfindungen - Arbeitslosengeld- Arbeitslosenhilfe in die oft vorgezogene Rente zu entlassen. Die Hoffnungen, die im Jahr 1985 zu der Gesetzgebung geführt haben, haben sich allerdings als falsch erweisen. Die Annahme, die frei werdenden Arbeitsplätze älterer Menschen würden wieder mit jüngeren besetzt, waren auf dem Arbeitsmarkt kaum zu beobachten. Leider hat die Realität gezeigt, dass von sechs auf diesem Weg in die Arbeitslosigkeit entlassenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nur eine(!) neue Arbeitnehmerin, ein neuer Arbeitnehmer, eingestellt wurde. Diese Tatsache hatte die Sozialkassen sehr stark belastet.

Und nicht nur das: Durch die frühe Aussteuerung älterer Menschen aus dem Arbeitsprozess geht Erfahrung, gehen die Arbeitsergebnisse der Ausbildung, gehen soziale Kompetenz und Führungsfähigkeit verloren. Dies verschlechtert außerdem die Chancen der jüngeren Generation beim Berufseinstieg. Wenn die altere Generation fünf bis 10 Jahre länger Rente bezieht oder zuvor Transferleistungen unterschiedlichster Art, dann erhöht das die Lohnnebenkosten für die jüngere Generation erheblich. Damit wird die Arbeitskraft der Jüngeren teurer, sie werden seltener eingestellt und sind ihrerseits auf Transferleistungen angewiesen. So verhindert die Frühverrentung die Einstellung der Jüngeren – das krasse Gegenteil dessen, was vorgeblich mit einer solchen Gesetzgebung beabsichtigt war.

Und deshalb ist es auch richtig, die Dauer der Zahlung Arbeitslosengeld I so kurz wie möglich zu gestalten, um den Unternehmen die vorzeitige Verdrängung der älteren Arbeitnehmer nicht noch schmackhaft zu machen.

Nehmen wir beide Argumente in den Blick, liegt „die Wahrheit“ zwischen 12 und 32. Auf der Suche nach dieser Wahrheit war der offene Dialog zwischen Müntefering und Beck eine große Hilfe für eine diskussionsstarke Partei und auch für unsere Gesellschaft.

Insgesamt geht es uns und mir um die Verbesserung der Beschäftigungschancen für Arbeitslose und insbesondere um die Chance älterer Menschen, wieder Arbeit zu finden. Also wäre mir am liebsten, keiner bräuchte Arbeitslosengeld in Anspruch zu nehmen, weil jeder gleich wieder Arbeit findet. Aus diesem Grund begrüße ich auch die Überlegung unseres Parteivorsitzenden, eine Missbrauchsklausel zu vereinbaren und alle drei Jahre die Regelungen zu überprüfen.

In der Hoffnung, Ihre Fragen konstruktiv aufgegriffen zu haben, verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen
Ihr Lothar Binding

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Antwort von
SPD

Der Bundesparteitag der SPD hat bei Würdigung der oben dargestellten Überlegungen deshalb aus sozialen Gründen die Sorgen vieler Menschen aufgegriffen und am 27. Oktober 2007 beschlossen:

Beschäftigte über 45 Jahre erhalten ALG I
15 Monate lang, wenn sie in den fünf Jahren vor der Arbeitslosigkeit 30 Monate lang Beiträge einbezahlt haben,

Beschäftigte über 50 Jahre erhalten ALG I
18 Monate lang, wenn sie in den fünf Jahren vor der Arbeitslosigkeit 36 Monate lang Beiträge einbezahlt haben,
24 Monate lang, wenn sie in den fünf Jahren vor der Arbeitslosigkeit 42 Monate lang Beiträge einbezahlt haben

Ich hoffe sehr, dass sich im Bundestag bzw. der großen Koalition in Berlin dafür eine Mehrheit finden lässt.