Frage an Lothar Binding von Hans-Jürgen T. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Hallo Herr Binding,
zur Beurteilung der Wirkungen einer geplanten Rente mit 67 wäre es nach meiner Meinung wichtig, zu wissen, wie sich die Zahl der Erwerbstätigen in der den nächsten Jahren bis zum Renteneintritts- alter 67 entwickeln wird. Verfügen Sie über belastbare, aktuellere Prognosen, wie sich die Relation der Arbeitswilligen zu den verfügbaren Stellen für die unterschiedlichen Berufsgruppen in den nächsten Jahren bis zum vollen Greifen der Rente mit 67 entwickeln wird ? Welche zahlenmäßigen Überlegungen liegen dem Vorschlag der SPD zugrunde, mit dem Projekt erst zu starten, wenn 50% der 60 - 65 Jährigen beschäftigt werden ?
Für eine größere Zahl von Menschen mit geringem Einkommen besteht nicht die Möglichkeit, sich eine kapitalgedeckte Zusatzrente zu schaffen. Sie werden nur Rentenansprüche unterhalb des Grundsicherungsniveus erreichen. Wie will die SPD mit diesem Thema umgehen ?
Eine vorgezogene Rente für besonders belastete Berufsgruppen für zu gleichen Rentenan-
sprüchen bei geringeren eingezahlten Beiträgen. Wer soll das bezahlen ?
Sehr geehrter Herr Tragbar ,
für Ihre Frage vom 24. August 2010 danke ich Ihnen recht herzlich. Leider kann ich Ihnen heute nur eine vorläufige Antwort senden und muss Sie noch um etwas Geduld bitten. Die laufenden Haushaltsberatungen im Bundestag erzeugen – über das parlamentarische „Alltagsgeschäft“ hinaus – einen sehr hohen Arbeitsaufwand. Eine inhaltlich fundierte und angemessene Antwort war daher bislang leider nicht zu schaffen. Dafür bitte ich um Ihr Verständnis; ich sende Ihnen meine Antwort so bald als möglich zu.
Mit freundlichem Gruß
Lothar Binding
Sehr geehrter Herr Tragbar,
vielen Dank für Ihre Frage. Bitte entschuldigen Sie meine verspätete Antwort. Manchmal gibt es einfach zu viele Vorgänge in unserem kleinen Büro und dann gerät sogar eine wichtige Antwort ins Hintertreffen.
Sie beziehen sich in Ihrer Frage auf das vor kurzem vom SPD-Präsidiums zur Rente mit 67 vorgelegte Konzept. Dieses Konzept wird in einer Parteikommission konkretisiert und soll auf einem Parteitag im kommenden Jahr zur Beschlussfassung vorgelegt werden. Die Expertenkommission wird sich mit den zur Verfügung stehenden Prognosen zu der Situation am Arbeitsmarkt intensiv beschäftigen. Sobald Ergebnisse vorliegen, werden sich auch meine Kolleginnen und Kollegen aus der Facharbeitsgruppe "Arbeit und Soziales" im Bundestag wieder mit dem Thema beschäftigen. Deshalb müssen wir uns noch ein wenig gedulden.
Wie Sie richtig erwähnen, wird überlegt, das Renteneintrittsalter erst anzuheben, wenn jeder zweite zwischen 60 und 64 Jahren einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen kann. Solche Zahlenangaben dienen allerdings nur als Arbeitshypothesen, ich verstehe sie als Richtungsparameter, also "mehr als heute" ist die Arbeitsrichtung. Eine wissenschaftliche Ableitung kenne ich nicht - politisch bin ich ohnehin für 100 %, wie ich auch dafür bin, dass alle Menschen gesund sind etc. Nach Auskunft der Bundesregierung ist heute nur knapp jeder vierte über 60 Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sollte sich diese relativ geringe Quote nicht ändern, würde dies bei einer längeren gesetzlich festgelegten Lebensarbeitszeit für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Rentenabschläge bedeuten. Die Folge könnte ein Anstieg der Altersarmut sein, was wir vermeiden wollen.
Es zeigt sich allerdings, dass der Anteil der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Alter von 60 bis 64 in den letzten Jahren von 10,7 Prozent im Jahr 2000 auf 21,5 Prozent im Jahr 2009 gestiegen ist. Dieser Anstieg ist deutlich und zeigt, dass eine bessere Beschäftigungssituation älterer möglich ist. Das hängt einerseits mit der demographischen Entwicklung, aber auch mit den seit 2005 geltenden Regelungen im SGB II und SGB III zusammen. Dennoch lässt sich feststellen, dass rund 80 Prozent der Menschen über 60 Jahre nicht mehr sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Die Anzahl der Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist noch immer nicht ausreichend.
Im "RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz", das der Bundestag im Jahr 2007 beschlossen hat, ist eine sogenannte Überprüfungsklausel festgeschrieben: Ab 2010 sollen danach alle vier Jahre die Voraussetzungen für einen späteren Renteneintritt überprüft werden - unter anderem anhand der realen Arbeitsmarktchancen von Älteren. Wir nehmen den Auftrag des Gesetzes und die Realität sehr ernst, denn wir sehen, dass deutlich mehr Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Erwerbsbeteiligung der über 60-Jährigen zu steigern.
Arbeit muss attraktiver werden: Dazu gehört beispielsweise, Arbeitsplätze altersgerecht zu gestalten, so dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne gesundheitliche Einschränkungen bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können. Ebenso sind auch die Tarifparteien gefordert, den Berufsausstieg so flexibel wie möglich zu regeln, hier gibt es beispielsweise in der Metall- und Chemiebranche bereits heute praktikabele Lösungen. Insbesondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die aufgrund hoher körperlicher oder psychischer Belastungen das gesetzliche Rentenalter nicht erreichen können, profitieren davon.
Wir müssen auch im Bildungsbereich Sorge dafür tragen, dass mehr junge Menschen einen höheren Bildungsabschluss erreichen, denn je höher die Bildung ist, um so öfter sind ältere Menschen noch erwerbsfähig. Genauso wichtig ist auch die verpflichtende Weiterbildung von älteren Arbeitnehmern, für die der Arbeitgeber mit in die Verantwortung genommen werden muss.
Zudem müssten die Löhne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer endlich wieder der Produktivität folgen. Die häufig angewandt Praxis des Lohndumpings geht zulasten der Sozialversicherungen - darum ist auch die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen unabdingbar.
Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist eine schrittweise Anhebung des Rentenalters sinnvoll. Alles andere würde zu Rentenabschlägen und steigender Altersarmut führen. Dies lehnen meine Partei und ich ab.
Uns ist bewusst, dass dennoch die Rente mit 67 in bestimmten Berufen oft nicht möglich sein wird, ein Teil der Menschen wird auch zukünftig nicht bis 67 arbeiten können.
Soweit wir heute wissen können, wird Mitte des 21. Jahrhunderts jeder Dritte in Deutschland älter als 65 Jahre sein. Zudem wird die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen bei 84,5 und für Männer bei 80,5 Jahren liegen. Der Anteil der 80- und 90-Jährigen wird die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe sein. Heute sind 3,8 Prozent der Deutschen älter als 80 Jahre. In der Jahrhundertmitte werden es 11,3 Prozent sein. Gravierende Veränderungen. Der medizinische Fortschritt ist groß. Das Statistische Bundesamt erklärt, dass eine Obergrenze der Lebenserwartung gegenwärtig nicht in Sicht ist. Demgegenüber vermindert sich die Einwohnerzahl in Deutschland jährlich um 200.000 Menschen, weil die Geburtenrate zu gering ist.
Die herkömmliche Einteilung des Lebens in die drei Abschnitte: Kindheit, Berufszeit und Alter hat demnach ausgedient. Die späten Jahre des Lebens werden oft als "dritter" und "vierter" Lebensabschnitt aufgefasst.
Diese prognostizierte Entwicklung im Blick, bleibt die Anpassung und Weiterentwicklung des Rentenversicherungssystems eine unserer Hauptaufgaben:
- wir können die Beitragssätze erhöhen - im Hinblick auf die Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Wettbewerbsfähigkeit ein schwieriges Vorhaben
- wir können die Rentenleistungen kürzen - mit Blick auf viele sozial schwache Rentnerinne und Rentner kein guter Vorschlag. Der ehemalige Arbeits- und Sozialminister Franz Müntefering hat extra ein Gesetz eingebracht, damit selbst dann, wenn die Löhne sinken, das Rentenniveau nicht abgesenkt werden darf, sondern höchstens auf Null gesetzt werden kann - einer der Gründe, warum wir die Finanzierung der Rente nicht ausschließlich lohnbasiert organisieren möchten,
- wir können mehr - bisher sind es 1/3 bzw. 80 Milliarden Euro - Steuern in das Rentenversicherungssystem fließen lassen - was einem Umbau der gesetzlichen Alterssicherung gleichkäme und kurzfristig nicht von möglich wäre,
- wir können die Produktivitätszuwächse neu verteilen, also die Gewinne stärker besteuern und den Lohnanteil erhöhen. Die im Europäischen Vergleich mögliche Anhebung der Unternehmenssteuern würde bei Weitem nicht ausreichen um die in der Altersvorsorge fehlenden Mittel auszugleichen, die Löhne liegen in der Hand der Tarifpartner (und stiegen in den vergangenen 15 Jahren zu schwach, einer der Gründe, warum der Reallohn sank)
- wir können weitere Systeme neben die "Gesetzliche Rente" im Generationenvertrag stellen, wie "Betriebliche Zusatzvorsorge", "Private Zusatzvorsorge", gefördert und nicht gefördert.
Mit dem "Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung" (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) ist 2007 eine schrittweise Anhebung des Rentenalters um zwei Jahre auf 67 Jahre - beginnend 2012 - gesetzlich geregelt worden. Die Regelaltersgrenze sollte ab 2012 schrittweise um einen Monat, ab 2024 um zwei Monate pro Jahr erhöht werden, so dass erst ab 2029 das gesetzliche Renteneintrittsalter bei 67 Jahren läge. Betroffen wären die Geburtsjahrgänge 1964 und jünger; bis einschließlich 1963 Geborene würden die Regelaltersgrenze entsprechend früher erreichen.
Unter bestimmten Bedingungen ist es also ein praktikabler Ansatzpunkt, das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre zu erhöhen. Wobei weiterhin die Möglichkeit besteht, früher in Rente zu gehen, allerdings mit erheblichen Abschlägen. Bitte vergessen Sie nicht, dass das Renteneintrittsalter "nur" stufenweise auf 67 Jahre angehoben wird. Häufig wird die Situation in der Art dargestellt, dass der Rentner, der morgen mit 65 in Rente gehen möchte jetzt erst in zwei Jahren von seinen Altersansprüchen Gebrauch machen darf. Dies ist nicht der Fall und die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Menschen auch weiterhin wesentlich früher in Rente gehen werden als mit 67 Jahren.
Sie haben Recht: die heutigen Arbeitnehmer sind durch die Hohen Beitragssätze belastet, durch die Reformen sollten diese Beiträge auf einem zumutbaren Niveau von unter 20 % bis 2015 gehalten werden und auch danach auf weniger als 22 % begrenzt bleiben. Ohne die Gesetze der letzten Jahre wäre die heutige Belastung der Arbeitnehmer weitaus höher und stiege mühelos auf über 26 %. Nicht zu vergessen ist hierbei auch, dass die vielen Nullrunden der Renten und die geringe Erhöhung im letztem Jahr mit 0,54 Prozent einen Beitrag dazu geleistet haben, die Belastungen in Grenzen zu halten.
Zusammenfassend ist meine Position: Das mögliche Renteneintrittsalter sollte angehoben werden, z.B. auf 67 Jahre als Berechnungsgrundlage für den "Eckrentner". Allerdings sollte dieser Zeitpunkt flexibel gehandhabt werden: Jemand der länger arbeiten möchte, sollte diese Möglichkeit erhalten, jemand der kürzer arbeitet sollte dann keine Abschläge hinnehmen müssen, wenn er aufgrund seiner Tätigkeit nicht bis 67 arbeiten kann.
Als weitere Information sende ich Ihnen im Anhang den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion mit dem Titel "Das Risiko von Altersarmut durch veränderte rentenrechtliche Bewertungen von Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit und der Niedriglohn-Beschäftigung bekämpfen."
In der Hoffnung, Ihre Frage konstruktiv aufgegriffen zu haben, verbleibe ich
mit freundlichen Grüßen
Lothar Binding