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Frage von Alexander K. •

Frage an Lothar Binding von Alexander K. bezüglich Finanzen

Sehr geehrter Herr Binding.

Anbei ein sehr kritischer Artikel des Spiegel bzw. dessen Anfang, welcher die Finanzmarktkrise unter die Lupe nimmt. Dabei wird aber auch nach der Mitverantwortung der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder aber auch der damaligen Opposition aus CDU/CSU und FDP gefragt. Ich würde sehr gerne wissen, wie Sie zu den Vorwürfen des Spiegel stehen und wie Sie heute in der Rückschau die damalige Gesetzgebung unter Rot-Grün unter Mitwirkung der Opposition im Bereich Finanzmarkt bewerten, gerade auch vor dem Hintergrund der Finanzkrise?

Vielen herzlichen Dank für eine Antwort, das würde mich freuen.

Mit freundlichen Grüßen und vielen Dank im Voraus,
Alexander Koch.

Koalitionsausschuss

Die verdrängten Sünden der Heuschrecken-Bändiger

Von Markus Dettmer, Nils Klawitter und Christoph Schwennicke

SPD und CDU wollen Manager und Aktienmärkte zügeln. Dabei möchten sie am liebsten vergessen machen, dass sie manchem seltsamen Finanzprodukt selbst den Weg gebahnt haben - und sogar noch mehr Freiheit für Heuschrecken verlangten...............
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,611329,00.html

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Koch,

herzlichen Dank für Ihre Fragen und den beigefügten Artikel aus dem SPIEGEL. Ich bitte Sie gleich vorab um Entschuldi­gung, dass ich Ihnen eine recht lange Antwort zumute, und hoffe auf Ihr „Durchhaltever­mögen“ beim Lesen. Zugleich verweise ich Sie auch auf meine Homepage www.lothar-binding.de sowie andere Beiträge auf dieser Seite, wo Sie weitere Texte zu diesen Themen finden.

Der Beitrag des SPIEGEL wirft ehemaligen sozialdemo­kratischen Bundesregierungen vor, mit der Unterstützung der „Deregulier­ung“ der Finanzmärkte die „bösen Geister“ der Investment­banken, Hedge-Fonds, Rating­agenturen und anderer Erfinder neuer, gefährlicher Finanzprodukte selbst gerufen zu haben, die sich in unserer real- und industriewirtschaftlich geprägten sozialen Wirtschaftsordnung eingenistet und großen Schaden angerichtet haben – und die nun mit vereinten Kräften wieder gebannt werden sollen.

Dieser Vorwurf hat seine Berechtigung, wenn man im Nach­hinein feststellen muss, dass das wohlüberlegte Netz von Auf­sichts­regeln und Anlegerschutz, von Besteuerungs­vorschriften und Wirtschaftsförderung, von Investitions­bedingungen und Kapital­marktbestimmungen nicht dicht genug geknüpft war, um Deutschland vor den schlimmen Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise gänzlich zu bewahren. Und der Vorwurf erscheint auch dann zutreffend, wenn man in der Krise erkennen muss, dass kluge Verkehrs­regeln für das System der inter­nationa­len Finanzmärkte alleine nicht ausreichen, wenn Bankvorstände, Aufsichtsräte, Rating-Agenturen, Investment­abteilungen oder Wirtschaftsprüfer alle Grundsätze persön­lich­er und beruflicher Verantwortung in den Wind schlagen und nur noch an ihre Profite denken.

Und man kann sich vielleicht auch fragen, warum „die Politik“ im Allgemeinen oder die SPD im Besonderen nicht die Schattenseiten der internationalen Finanzwelt erkannt und beseitigt hat – aber muss man diese Frage nicht mit umso größerer Berechtigung auch all jenen unvorsichtigen und renditehungrigen Markt­teilnehmern, den Vertretern marktradikaler und neoliberaler Posi­tionen in Parlamenten und Regierungen, den wissenschaftlichen Politik­beratern oder Wirtschafts­redakteuren vieler Zeitungen stellen, die jede unserer Über­legungen zu staatlicher Intervention in das „freie Spiel der Märkte“ als Angriff auf die kapitalistische Wirtschaftsordnung verurteilt haben? Dieser neoliberale Geist der Deregulierung, Entstaatlichung und Renditeorientierung ist sicherlich ein Grund dafür, warum wir heute Finanzmarktstabilisierungsgesetze und Konjunkturprogramme brauchen.

An dieser Stelle eine kurze Zwischenbemerkung: Ich erinnere mich übrigens auch nicht an Artikel von SPIEGEL-Redakteuren, die mit der wünschenswerten Klarheit in der Analyse und Prognose sowie insbesondere Schärfe der Bewertung vor den Risiken der „Deregulierungs­politik“ der vergangenen Jahre gewarnt haben – zu Häme und Besserwisserei besteht also kein Anlass.

Der SPIEGEL-Vorwurf ist nach meiner Einschätzung letztlich falsch, denn er unterschlägt wichtige Rahmenbedingungen unseres politischen Handelns und macht eine einseitige Bilanz auf.

Wir haben uns in Regierungsverantwortung immer auch für bessere und weitreichendere Finanz­markt­regulierung und wirksamen Anlegerschutz eingesetzt. Leider erwähnt der Artikel nicht, dass viele kluge Regelungen der vergangenen Jahre eine sozialdemo­kratische Hand­schrift tragen, etwa die Eigenkapital­vereinbarung Basel II, das Investmentgesetz mit der Regulierung von Hedge-Fonds und Anlegerschutz­bestimmungen, oder das Risiko­begrenzungs­gesetz. Ich denke auch an Vor­schriften zur Einlagensicherung in der betrieb­lichen Altersvorsorge und bei sog. Riester- und Rürup-Ver­trägen, etwa über die Aus­gliederung des Anlage­vermögens in insolvenzsicheres Sonder­vermögen oder die Obergrenze für Beteiligungen von Pensionskassen, -fonds und Direkt­versicher­ungen an Aktienvermögen oder Anlagen in ausländischen Währungen; ich erinnere an die Finanz­markt­stabilisierungs­gesetze, die Reform der Einlagensicherung und der Anleger­entschädigung sowie das Anleger­schutzgesetz im vergangenen Jahr, das die Durchsetzung von Schadensersatz­ansprüchen von Kleinanlegern bei Falschberatung deutlich verbessert; ich verweise auf die Erfolge von Peer Steinbrück bei der internationalen Bekämpfung der Steuerhinterziehung; und ich erinne­re an die Gesetze zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen 2006 und zur Be­schränk­ung der Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen im Jahr zuvor.

Mit der EU-Richtlinie „Markets in Financial Instruments“(MiFID) wurde der Anlegerschutz durch europaweit harmonisierte Invest­mentgesetze und die Schaffung eines transparenten Kapital­markts verbessert. Sie betrifft grundsätzlich alle Finanzdienst­leistungen von Banken, Handelsplattformen, Börsen, Anlageberatern, Vermögensberatern, Maklerunternehmen, sowie Energie- und Rohstoff­händlern. Mit dem Finanzmarktrichtlinie-Umsetzungsgesetz vom Juli 2007 haben wir diese Richt­linie in deutsches Recht umgesetzt, was umfangreiche Änderungen im Wertpapierhandels­gesetz, im Börsengesetz, im Kreditwesengesetz, der Gewerbeordnung sowie weiteren Gesetzen notwendig machte.

Und wären Hedge-Fonds überall so verbraucherfreundlich (d.h. absolut restriktiv für Menschen, die nicht eben mal einen großen Betrag „verzocken“ können) reguliert wie in Deutschland, der Flächenbrand im Finanzmarkt wäre leichter zu löschen gewesen. Hedge-Fonds sind in ver­schiedenen Staaten – etwa USA, Schweiz, Luxemburg, Irland, Frankreich – zugelassen. Der Verzicht auf eine eigenständige deutsche Regelung – und damit die Möglichkeit, ein höheres gesetzliches Schutzniveau zu definieren und zu überwachen – wäre also die deutliche schlechtere Option gewesen, da wir uns damit lediglich auf Vorschriften anderer Nationen verlassen hätten.

Zudem bestand bei institutionellen wie privaten Anlegern auch in Deutschland ein großes Be­dürfnis nach Anlagemöglichkeiten in Hedge-Fonds, das seinen Ausdruck in Anhörungen und Fachgesprächen zum Investmentgesetz, in Stellungnahmen und Interviews fand und einen hohen Erwartungsdruck in der Öffentlichkeit erzeugte. Für Hedge-Fonds-Geschäfte wurde damals ein Investitionsvolumen von 80 Mrd. Euro behauptet. Tatsächlich aber gibt es heute nur 15 Hedge-Fonds mit einem Volumen von weniger als 2 Mrd. Euro – auch ein Ergebnis unserer restriktiven Zulassung. Wir sind dabei dem Gedanken gefolgt, dass eine Erlaubnis auch eine Regulierung in engen Grenzen bedeuten kann

Auch aus Wettbewerbsgründen und zur Auf­recht­erhaltung der Attraktivität des Finanz­platzes Deutschland haben wir eine – im internationalen Vergleich – strenge Zulassung von Hedge-Fonds umgesetzt und den Fonds enge Grenzen bei ihrer Geschäftstätigkeit auferlegt. Single-Hedge-Fonds dürfen zwar nicht nur als Spezialfonds für institutionelle Anleger, sondern auch als Publikums­fonds aufgelegt werden. Der öffentliche Ver­trieb an Privatanleger bleibt aber untersagt. Inländische Fonds können nun in den Wettbewerb mit ausländischen treten und auch im Ausland verkaufen. Die zum öffentlichen Vertrieb ihrer Anteile zugelassenen Dach-Hedge-Fonds dürfen maximal 20 % in einen einzelnen Zielfonds und nicht in mehr als 2 Zielfonds vom gleichen Emittenten oder Ziel­fonds­manager anlegen. Leverage und Leerverkäufe sind dem Dach-Hedge-Fonds untersagt.

Derzeit diskutieren wir auf nationaler wie internationaler Ebene viele Vorschläge mit sozial­demokratischer Prägung, die auf ein umfassendes Kontrollregime abzielen, in dem alle Finanz­marktprodukte, alle Kreditinstitute, Fonds, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, Versicherungen, Rating-Agenturen…, alle Sonderwirtschaftsgebiete und Steueroasen, auch alle Tätigkeitsfelder von Banken einer einheitlichen und wirksamen Aufsicht unterliegen – blinde Stellen und dunkle Nischen soll es künftig nicht mehr geben. Das wird nicht einfach: Wir erleben die derzeitigen Schwierigkeiten bei den Debatten auf europäischer und globaler Ebene über Eigenkapital- und Bilanzierungsvorschriften, über die Errichtung einer neuen Aufsichts­struktur für den Finanzmarkt und den angemessenen Umgang mit den tiefen Löchern, die die Rettungs­maßnahmen für Arbeitnehmer, Sparer und Unternehmen in die Haushalte vieler Staaten gerissen haben.

Leider haben wir in der Vergangenheit für unsere Ideen zur Kontrolle der Finanzmärkte nicht immer die notwendige Unterstützung im In- und Ausland gefunden – im Gegenteil. Wer bis vor kurzem strengere zwischenstaatliche Regulierungen vorgeschlagen hatte, wurde sprich­wörtlich ausgelacht – unter heftigem Beifall der FDP und von Teilen der CDU. Bundesfinanz­minister Steinbrück hatte schon vor Jahren vorgeschlagen, den inter­nationalen Finanz­markt stärker zu kontrollieren und die Managerhaftung zu verschärfen. Leider wurde dieser Vorstoß damals aber von vielen Partnern in Europa und insbesondere in den USA nicht mitgetragen. In Deutschland ist dieses Kapitalmarktinformations­haftungs­gesetz, in dem auch die Manager­haftung besser geregelt werden sollte, im Jahr 2004 an der damaligen Opposition unter der Führung von Frau Merkel bzw. der zu erwartenden Ablehnung im Bundesrat gescheitert. Ich bin allerdings froh, dass wir viele Aspekte dieser Initiative bei der Verabschiedung des Anlegerschutzgesetzes im vergangenen Jahr wieder aufgreifen und umsetzen konnten.

Wären Länder wie die USA oder einige europäische Staaten unseren Initiativen früher gefolgt, die Krise wäre viel schwächer ausgefallen. So aber wurden in vielen Fällen Finanz­markt­regulierungs­vorschriften umgangen, der von deutschen Behörden überwachte Rechts­raum verlassen und die Handlungsmöglichkeiten der Bundesanstalt für Finanzdienstleistung (BaFin) unterlaufen. Damit wurden viele Vorgänge, Produkte und Institute einer Kontrolle durch die Aufsichtsbehörden ent­zogen. So wurde letztendlich ein Geschäft mit unkalkulier­baren Risiken befeuert, dem im Herbst 2008 zuerst die amerikanische Lehman-Bank zum Opfer fiel. Damit griff die Krise auch auf Deutschland über. Große deutsche Banken, insbesondere die Deutsche Bank als Marktführer, hatten diese windigen Produkte auf den deutschen Markt gezogen; vielfach wurden dabei – trotz teils geringer Gewinnsteigerungs­möglichkeiten – Kunden in extrem hohe Risiken geschickt. Leider verloren sie damit auch häufig den Schutz ihrer Einlagensicherungs- und Entschädigungs­systeme.

Letztlich wusste auch bei uns keine Bank mehr, wie viel Giftmüll die andere in ihren Bilanzen führt. Die Folge: das Kreditgeschäft kam zum Erliegen; außerdem fielen die Solvenzkrise in den USA und die Liquiditätskrise in Europa zusammen – eine fatale Situation für jede Volkswirtschaft, für die der Austausch von Geld die gleiche Bedeutung wie der Blutfluss für den menschlichen Organismus hat.

Der im SPIEGEL-Artikel geäußerte Vorwurf greift auch deshalb zu kurz, weil er den Leser glauben macht, Bundesregierungen und die sie tragenden Koalitionsfraktionen könnten sich den ideo­logischen Tiefenströmungen und realen Funktionsprinzipien einer weltweit ver­netzten Wirt­schaftsordnung gänzlich entziehen und ihre Volkswirtschaften zu abgeschotteten Häfen machen, zu denen international agierende Unternehmen, Banken, Versicherungen oder Investmentgesell­schaften keinen Zutritt haben. Die Anpassung an die Bedingungen und Erfordernisse einer globalen Wirtschaftsordnung, für die wir die politische Verantwortung tragen, findet aber keines­wegs im luftleeren Raum statt: Unternehmen konkurrieren um Marktanteile, Volkswirtschaften konkurrieren um Absatzmärkte und Investitionen – und Nationalstaaten konkurrieren um Steuer­einnahmen und damit die Finanzierung politischer Gestaltung. Diese europäische, internationale, weltweite Wettbewerbssituation hat viele Facetten, die in der Finanz- und Steuerpolitik deutlich aufscheinen.

Die Kapitalverkehrs­freiheit, eine der vier Grundfreiheiten innerhalb der EU, ist eine der Ursachen für die Entstehung globaler, lange unregulierter und „liberalisierter“ Handelsplätze. Sie ist wichtig und richtig, um in der Zukunft einen effizienten und sozial ausgewogenen Binnenmarkt zu ver-wirklichen. Derzeit ist die Umsetzung dieses Funktionsprinzips aller­dings noch zu unkoordiniert und fragmentiert. Aus dieser Grundstruktur des internationalen Finanzmarkts entstanden Schwie­rig­keiten für die Durchsetzung unseres demokratischen Gestaltungsauftrags und des Prinzips der Verantwort­lichkeit für politische Entscheidungen. Denn das Bewusstsein für den sozialen Mehr­wert guter Finanzmarktregulierung oder fairer Steuergesetzgebung war und ist zwischen ver­schiedenen Staaten und Rechtsgebieten sehr unterschiedlich ausgeprägt. Einige Steueroasen, Off-Shore-Finanzzentren und Hoheitsgebiete erheben keine oder nur sehr geringe Steuern und drücken bei Finanzmarktregulierung und Ver­braucherschutz beide Augen fest zu. Aber auch Mitglied­staaten der EU oder der OECD verschafften sich mit ihrem Steuer­recht lange Zeit einen wichtigen Standortvorteil im internationalen Wett­bewerb, fügte gleich­zeitig aber vielen anderen Ländern empfindlichen Schaden zu. Es entstand ein „Aufsichts­gefälle“ zwischen regulierten und unregulierten Bereichen, denn Anlagemodelle oder Geschäftsfelder, die in einem Staat mit guten Gründen unter staatlicher Kontrolle stehen oder sogar verboten wurden, sind im nächsten Staat ohne Auflagen erlaubt – ein Umstand, den viele Spieler auf den Finanzmärkten gerne ausnutzten, um sich demokratischer Kontrolle zu entziehen.

Auch andere Faktoren erschwerten die dringend erforderliche internationale Abstimmung bei der Finanzmarktaufsicht, die ich hier nur andeute: Abstimmungen und Entscheidungen durchlaufen im institutionellen Gefüge der EU einen langwierigen, oft mühsamen Prozess; zudem stehen nationale Eigen­interessen, die etwa an der Frage nach Auftrag und Kompetenz von Aufsichts­behörden offensichtlich werden, einheitlichen Lösungen im Weg. Wo eine Harmonisierung oder Koordinierung der Finanzmarktregelungen und der Aufsichtsbehörden in der EU erfolgte, stand sie häufig alleine unter dem Leitmotiv, Wettbewerbsbeschränkungen im Binnenmarkt abzubauen. Man folgte dabei der Logik, aus den unterschiedlichen mit­glied­staatlichen Aufsichtsniveaus dürften den Marktteilnehmern keine Nachteile entstehen. Leider ließ sich nach meiner Einschätzung daraus allerdings noch keine wirkliche gemeinwohl­orientierte Wirtschaftsordnung mit einheitlichen und verbindlichen Schutzregelungen für Verbraucher und Anleger entwickeln.

Dieser Eindruck entsteht auch, wenn man die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) der vergangenen Jahre betrachtet. Der EuGH entwickelt seine – für die Mitglied­staaten der Europäischen Union bindenden – Urteile auf Basis der Grundfreiheiten, die in den Europäischen Verträgen bzw. des neuen Lissaboner Ver­trages niedergelegt sind. So wurden mit dem Gerritse-Urteil der pauschalierte Steuerabzug für nichtansässige Steuerpflichtige und im Lankhorst-Hohorst Urteil auch die deutschen Unter­kapital­isierungsvorschriften jeweils als europarechtswidrig bean­standet. Große Folgen – auch für die deutsche Steuergesetzgebung – hatte das Huges de Lasteyrie du Saillant-Urteil zur Wegzugs­besteuerung.

Diese Grundlage ist als alleiniger Maßstab für die praktische Entwicklung der Gesetz­gebung für Steuern und Abgaben in den einzelnen Ländern allerdings oft nicht hinreichend, häufig sogar kontraproduktiv. Leider nimmt der EuGH nach meiner Einschätzung nur wenig Rücksicht auf den notwendigen Schutz nationaler Steuereinnahmen und ignoriert viele bisherige Grundsätze in den verschiedenen nationalen Steuergesetzen. Dies halte ich insgesamt dann für ein großes Problem, wenn solche Urteile zu einseitigen Belastungen der Steuerbasis in einzelnen Ländern führen. Auch deshalb ist koordiniertes Vorgehen der einzelnen Mitgliedsstaaten notwendig, denn wir erleben, dass nationale Alleingänge nicht zum Erfolg führen.

Umgekehrt ist es für einen international wettbewerbsfähigen Wirtschaftsraum auch not­wendig, dass wir bestimmte Hindernisse für Aktivitäten im Binnenmarkt abbauen, um unseren Zielen und Verpflichtungen aus dem Lissabon-Prozess gerecht zu werden. Das bedeutet nach meiner Ein­schätzung, dass der Abbau steuerlicher Schranken innerhalb der EU vom Abbau des binnenmarkt­schädlichen Steuerwettbewerbs begleitet werden muss. Es kommt mir dabei auf die Unter­scheidung zwischen fairem und unfairem bzw. binnenmarkt­freundlichem und -schädlichem Steuerwettbewerb an. Die Definition dieser Grenze markiert auch einen wichtigen Gradmesser für die Wahrnehmung unserer politischen Verantwortung bei der Weiterentwicklung unserer Wirtschaft und Gesellschaft in einer Wirtschaftsordnung mit offenen Grenzen.

Dieser Grundsatz bildet auch ein wichtiges Leitmotiv des Vierten Finanzmarkt­förderungs­gesetzes. Die Einführung der Steuer­freistellung der Beteiligungs­verkäufe von Banken, Versicher­ungen und anderen Unternehmen wird oft mit der Befürchtung verknüpft, der Staat ziehe sich aus seiner regulatorischen Verantwortung zurück und lasse ihnen freie Hand bei ihren Geschäften – und verzichte darüber hinaus auch noch auf wertvolle Steuereinnahmen aus diesen Veräußerungs­gewinnen. Diese Bewertung ist aller­dings nur eine Seite der Medaille: Die Steuerfreistellung korrespondiert mit der Abschaffung der steuer­lichen Abzugs­fähigkeit von Veräußerungsverlusten und Teilwertabschreibungen; die im Begriff „Steuer­freistellung“ suggerierten steuerlichen Minderein­nahmen treten daher nicht zwangsläufig auf. Und stell‘ Ihnen nur einmal vor, der Staat hätte die Korrekturen der überhitzten Marktent­wicklung, die das Platzen der sog. „Dot-com-Blase“ mit sich brachte, nach den alten Regelungen steuerlich abbilden müssen – die staatlichen Haus­halte hätten mit enormen Verlusten zu kämpfen gehabt. Zudem können die Schwankungen der Aktienkurse und der damit verbundenen Wertent­wicklung der Anteile vieler börsennotierter Unternehmen die Einnahmeseite der staatlichen Haushalte auch stärken.

Und warum wurde dann nicht einfach an der steuerlichen Belastung der Veräußerungs­gewinne von Anteilen an Kapitalgesellschaften festgehalten, um Steuereinnahmen zu sichern und den staatlichen Besteuerungsanspruch aufrechtzuerhalten? Der Hintergrund der gesamten Regelung beruht auf der Erkenntnis, dass es früher kaum Steuerein­nahmen in diesem Bereich gab. Viele Anteilseigner hatten eine betriebswirtschaftlich notwendige oder unter Ertrags­gesichtspunkten sinnvolle Veräußerung aus steuer­lichen Gründen vermieden – obwohl bestimmte Betriebs­teile mit Blick auf die jeweiligen Unternehmens­ziele nicht hätten gehalten werden dürfen. Gleichzeitig hielt diese Regelung im Steuerrecht für in- und ausländische Investoren, die eigentlich zur Beteiligung an einem Unternehmen und seiner Sanierung bereitgewesen wären, nur wenige Anreize bereit.

Im Einzelfall blieb früher also häufig Kapital in maroden oder veralteten Unternehmen gebunden, das somit für Innovationen und Investitionen in die Produktion und in Arbeits­plätze fehlte. Eine steuerliche Regelung, die sich selbst das Wasser abge­graben hat, da ihre Konstruktion ökonomische Fehlanreize gesetzt und die eigene Bemessungs­grundlage beschädigt hat. Sie machte daher keinen Sinn – weder in fiskalischer Hinsicht noch zur Verhaltenssteuerung der Marktteilnehmer. Die Neuregelung der Besteuerung von Veräußerungs­erlösen diente daher auch dem Zweck, diese steuermotivierte Fehlallokation des Kapitals aufzulösen und neue Staatseinnahmen zu generieren.

Zudem erinnere ich daran, dass viele der in Deutschland tätigen Beteiligungsgesellschaften (Private Equity) nach amerikanischem Steuerrecht behandelt werden und daraus keine Steuer­einnahmen in Deutschland entstehen. Ein US-Fonds beteiligt sich beispielsweise an einem deutschen Unternehmen, investiert sein eingesammeltes Kapital, und restrukturiert das Unter­nehmen. Dies kann aus gesellschaftlicher Sicht gut sein, wenn Arbeits­plätze dadurch langfristig erhalten werden können – denn nicht alles, was fliegt, ist auch eine Heuschrecke; der Einstieg von Beteiligungsgesellschaften kann auch schlecht sein, wenn das übernommene Unternehmen heruntergewirtschaftet wird und Arbeitsplätze vernichtet werden.

Schließlich wird das Unternehmen oder Teile davon wieder veräußert, und der Fonds schüttet seine steuerfreien Veräußerungsgewinne aus. Die Gewinne des Fonds‘ werden in den USA nach dortigen Regeln versteuert - und nach den geltenden Freistellungsregeln des Doppel­besteuerungs­abkommens dann nicht erneut in Deutschland. Also selbst wenn es in Deutsch­land die Versteuerung der Veräußerungserlöse gäbe, wären US-Fonds davon nicht betroffen.

Zudem wird ein zentraler Aspekt der Neuregelung in der öffentlichen Debatte häufig nicht aus­reichend gewürdigt – sei es aus Unkenntnis oder Kalkül: Die Steuer“freiheit“ von Veräußerungs­erlösen aus dem Verkauf von Anteilen an Kapitalgesell­schaften hat – hinsichtlich der steuerlichen Rechtsfolgen – nur Bedeutung, solange die Erlöse innerhalb der unternehmerischen Sphäre verbleiben. Der „Besteuerungsverzicht“ ist somit nur vorläufig, da er unter dem Vorbehalt steht, dass die zunächst steuerfreien Veräußerungs­erlöse bei einem künftigen Übergang in die Privat­sphäre nach­versteuert werden. Langfristig gibt es also keine Steuerfreiheit. Zudem erinnere ich daran, dass alle zur Veräußerung anstehenden Vermögens­werte und Unternehmensteile bereits steuerlich vorbelastet sind – ausgenommen die stillen Reserven, die erst beim Verkauf aufgedeckt werden.

Bei der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften müssen wir drei verschiedene Fälle unterscheiden, nämlich ob diese Anteile von Kapitalgesellschaften, von Personengesell­schaften oder von Privatpersonen gehalten werden:

Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften, die von einer anderen Kapitalgesellschaft gehalten werden:

In diesem Fall bleiben die aus Veräußerungen entstehenden Gewinne steuerfrei. Zuvor waren Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen dieser Art grundsätzlich steuerpflichtig. Ein Beispiel: eine Bank hat sich in den 1960er Jahren an einem Unternehmen beteiligt und hält seither diese Beteiligung. Beim Verkauf hätte nach der alten Regelung der erzielte Erlös zur Erhöhung des steuerpflichtigen Gewinns geführt und wäre der üblichen Belastung mit Körper­schaftsteuer, Solidaritätszuschlag und Gewerbesteuer unterlegen. Gerade in dieser Konstellation traten in der Vergangenheit die beschriebenen ökonomischen Fehlsteuerungen und fiskalischen Störungen auf: Anteilseigner – speziell Kapitalgesellschaften mit hohem Beteiligungsbesitz – hielten an unrentablen Beteiligungen fest und verhinderten damit einen effizienten Kapitaleinsatz. Mit der Neuregelung wurde es Kapitalgesellschaften erleichtert, sich von bestimmten Beteiligungen zu trennen. Dies senkte auch die Hürden für den Marktzugang ausländischer Investoren, die damit nicht mehr befürchten mussten, eine Beteiligung an einem deutschen Unternehmen allein aus steuerlichen Gründen nicht wieder aufgeben zu können.

Unsere damaligen Überlegungen zur Besteuerung von Veräußerungserlösen lassen sich folgender­maßen zusammenfassen: um eine mehrfache Belastung der Anteilseigner in der Beteiligungskette zu vermeiden und „Verstopfungen“ im Unternehmenskreislauf aufzulösen, sind Ausschüttungen zwischen Körperschaften von der Besteuerung freigestellt. Im Gegenzug für diese sog. allgemeine Dividendenfreistellung (§ 8b, Abs. 1 KStG) sind die mit den Dividenden in Zusammenhang stehenden Aufwendungen nicht abziehbar (§3c EStG). Der Anteils­verkauf wird dabei wie eine wirtschaftliche Total-Ausschüttung bewertet. Damit bleiben einerseits die in Veräußerungs­gewinnen enthaltenen offenen Rücklagen steuerfrei, weil sie zuvor schon der Körperschaftsteuer unterliegen; andererseits sind die beim Verkauf aufgedeckten stillen Reserven beim Übergang in die Privatsphäre zu versteuern.

Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften, die im Betriebsvermögen einer Personengesellschaft oder von einem Einzelunternehmer gehalten werden

Die bei dieser Konstellation entstehenden Veräußerungsgewinne waren nach dem Halb­einkünfte­verfahren einkommensteuerpflichtig. Die Gewinne von Personenunternehmen wurden nicht vom Unternehmen versteuert, sondern dem oder den Eigentümern zugerechnet, und unterlagen damit der Einkommensteuer. In diesem Fall der Veräußerung einer Beteiligung durch ein Personen­unternehmen bedeutete die Gleichstellung mit einer Total­ausschüttung also die steuerliche Erfassung des Veräußerungsgewinns mit der halben Bemessungsgrundlage.

Veräußerung aus dem Privatvermögen

Anteile an Kapitalgesellschaften können auch im Privatvermögen gehalten werden und gehören damit zum Bereich der privaten Lebensführung. Diesen Bereich haben wir mit der Abgeltungsteuer neu geregelt; Du findest dazu einige Informationen auf folgender Seite:
http://www.abgeordnetenwatch.de/lothar_binding-650-5620.html#questions

Ich hoffe, dass ich Ihnen mit diesen Ausführungen einen Eindruck davon vermitteln konnte, warum das Wünschenswerte, das Machbare und das Beschlossene nicht immer deckungs­gleich sind – und trotzdem genügend Spielraum für verantwortungsbewusste Politik bleibt.

Mit freundlichem Gruß, Lothar Binding