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Frage von Elmar S. •

Frage an Lale Akgün von Elmar S. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrte Frau Akgün,

nach dem Ausscheiden von Herrn Müntefering und des Kurswechsels innerhalb der SPD würde ich gerne wissen wie Sie zur Modernisierung des Sozialstaates stehen. Pro oder Contra Agenda 10 - und warum?

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Schwarz,

gerne gebe ich Ihnen meinen Standpunkt zur Debatte um die Agenda 2010 zur Kenntnis.

Kein anderes Reformpaket ist in den vergangenen Jahren derart verdammt worden wie die Agenda 2010. Kein anderes Reformpaket ist im Gegenzug jedoch auch für derart sakrosankt erklärt worden: Kritik verboten! Beide Positionen halte ich in ihrer Absolutheit und Polarisierung für falsch. Stattdessen werbe ich mit allem Nachdruck dafür, eine wohldurchdachte Zwischenbilanz zu ziehen. Eine Zwischenbilanz über ein Bündel an Arbeitsmarkt- und Sozialreformen, das in seiner Größe und der Schnelligkeit seiner Umsetzung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einmalig war.

Agenda 2010 auf dem Prüfstand: Im Grundsatz richtig. Die Agenda 2010 ist ein Reformpaket, das nach den Jahren des Stillstands den Versuch unternommen hat, den Arbeitsmarkt und spezielle die Vermittlung in seinen Grundstrukturen zu verändern. Dabei ging es nie darum, Arbeitsplätze zu schaffen, das übersteigt die Möglichkeiten der Politik, die lediglich einen guten Rahmen bereitstellen kann. Nein, die Agenda, die in der Regierungszeit von Bundeskanzler Schröder entwickelt und im März 2003 vorgestellt wurde, hat sich zum Ziel gesetzt, Arbeitssuchende und Arbeitgeber mit offenen Stellen auf dem Arbeitsmarkt schneller und direkter zueinander zu führen. Arbeitslose Menschen sollen effektiver und vor allem passgenauer, auf ihre einzelnen Biografien gemünzt, vermittelt werden. Damit ist die Agenda 2010 ist in ihrer Zielsetzung Kernstück des "vorsorgenden Sozialstaates", der Leistung anerkennt, aber auch diejenigen schützt, die im Wettbewerb das Nachsehen haben. Dazu sieht die Agenda 2010 ein ganzes Bündel an Maßnahmen vor, wobei neben der heute heißdiskutierten Debatte über die Höhe des Arbeitslosengeldes II ("Hartz IV"), viele Reformpunkte in Vergessenheit geraten sind: Die Bundesanstalt für Arbeit wurde zur neuen Bundesagentur für Arbeit (BA), hinzu gekommen sind die Personal-Service-Agenturen, die eine Art Leiharbeit in der Hoffnung einer Festanstellung organisieren, es gibt Bildungsgutscheine, mit denen sich Arbeitslose ihre Weiterbildungsstelle eigenständig aussuchen können, neue Fördermöglichkeiten für die Selbstständigkeit, Job-Center und die neuen "Mini-Jobs". Aus dieser Philosophie erwachsen auch andere Maßnahmen, wie etwa solche gegen Schattenwirtschaft ("Schwarzarbeit"), oder die Ausweitung des Entsendegesetzes auf weitere Branchen, damit Mindeststandards bei den Arbeitsbedingungen gewährleistet sind.

Wie weiter mit der Agenda?
Nun sollten und müssen wir über jedes einzelne Instrument, über jedes Werkzeug reden. Und die Kernfrage bei der Entscheidung über Fortbestand oder Änderung eines Instrumentes muss sein: Ist es geeignet, das Ziel der Agenda 2010, Menschen besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren und sie vor sozialem Anstieg zu bewahren zu erreichen? Diese Evaluierung ist übrigens nicht neu. Einige Instrumente, wie die Vermittlungsgutscheine, die Personalserviceagenturen und die Förderung von Selbstständigen (Stichwort Ich-Ag) wurden längst und zu Recht verändert, ohne dass irgendjemand darin eine Krise sozialdemokratischer Arbeitsmarktpolitik gesehen hätte. Nach meiner Ansicht müssen jedoch einige Maßnahmen der Agenda 2010 verändert und ergänzt werden, und diese Änderungen müssen den sozialen Halt derer verbessern, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die Kritik an diesen einzelnen Maßnahmen und meine Forderungen habe ich schon 2003 in einem offenen Brief an alle SPD-Mitglieder meines Wahlkreises vertreten. Die Erfahrungen, die wir nun haben, bestätigen meine damalige Einschätzung. Meine Kritik und meine Forderungen gelten nach wie vor und ich fordere deren Umsetzung mit umso mehr Nachdruck ein.

Drei Probleme und drei Lösungsvorschläge 1. Das System der Arbeitslosenversicherung vereinheitlichen Das System der Arbeitslosenversicherung zerfällt in zwei Teile, die von verschiedenen Gesetzen und Organisationen gesteuert werden: Arbeitslose, die unter das Sozialgesetzbuch SGB III fallen, werden von der Bundesagentur für Arbeit betreut. Für diejenigen Menschen, für die das SGB II zuständig ist (Hartz IV), sind jedoch die Argen (Arbeitsgemeinschaften) und Optionskommunen zuständig. Diese doppelte Struktur verdoppelt auch den Verwaltungsaufwand ohne Not. Ursprünglich hatten die Hartz- Kommission und die SPD ein Modell präferiert, bei dem die BA für alle Arbeitslosen zuständig ist: für die Auszahlung der Leistungen ebenso wie für die Vermittlung, Betreuung und Weiterbildung. Dieses Modell bietet Service aus einer Hand und reduziert den Verwaltungsaufwand. Zudem würde es der BA jegliche Anreize nehmen, sich vornehmlich um die "leichteren" Fälle zu kümmern, derweil sie die schwerer zu Vermittelnden bis Hartz IV "durchrutschen" lässt. Derzeit ist es augenfällig, dass die BA sich vor allem um solche leichteren Vermittlungsfälle kümmert, um Kosten und Aufwand zu sparen. Aktuelle Zahlen deuten daraufhin, dass das "Fördern" dabei auf der Strecke bleibt. Mit dieser Kostenreduktion sind übrigens auch unter anderem die monatlichen Überschüsse zu erklären, die die Bundesagentur aktuell anhäuft. Meiner Meinung nach sollte dieses Geld, das aus Versicherungsbeiträgen kommt, genutzt werden, die Arbeitslosen besser zu betreuen, zu qualifizieren und zu vermitteln. Das ist die erste Aufgabe der BA und nicht etwa die Gewinnerwirtschaftung wie eines börsennotierten Unternehmens! Die aktuell diskutierte Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere ist richtig und sozial gerecht. Ich unterstütze unseren Parteivorsitzenden in dieser Forderung uneingeschränkt. Bei dieser Maßnahme alleine darf es jedoch nicht bleiben. Denn sie hilft den Betroffenen nur bedingt und kurzzeitig und kann daher nur ein Schritt von mehreren bei der sozialeren Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik sein. Wer nach zwölf Monaten ALG-I-Bezug keinen Arbeitsplatz gefunden hat, wird sich auch nach 15 oder mehr Monaten schwer tun, wenn die Zeit nicht für eine gründliche Qualifizierung genutzt wurde. Es ist dann doch ein nur schwacher Trost, wenn diese Person erst drei Monate später in das "Hartz IV-Loch" fällt. Vernünftige Qualifizierung und eine effektive Vermittlung, die potenziellen Arbeitgebern die Vorzüge eines älteren Mitarbeiters vor Augen führen - das sind die mindestens ebenso wichtigen Maßnahmen. Mein konkreter Vorschlag, den wir versuchen sollten: Die Dauer des ALG I Bezuges flexibler zu gestalten und unter Umständen so lange zu zahlen, wie eine substanzielle Weiterqualifizierung mit einer konkreten Aussicht auf eine bestimmte neue Arbeitsstelle dauert. Die Qualifizierungsmaßnahme könnte gar der zukünftige Arbeitgeber auf seine Bedürfnisse hin selbst anbieten - zum Nutzen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
2. Die Situation der Hartz IV Empfänger verbessern Ein weiteres Problem ist, dass der Aufschwung am Arbeitsmarkt weitgehend an den Hartz- IV-Empfängern vorbeigeht. Zwar konnten in den ersten fünf Monaten dieses Jahres mehr als 1,5 Millionen ALG-II-Empfänger ihre Arbeitslosigkeit beenden, davon aber nur 35 Prozent durch Erwerbstätigkeit. Von diesem guten Drittel wiederum haben ganze 40 Prozent einen sogenannten Ein-Euro-Job bekommen. Und nur wenige begannen eine Ausbildung oder eine Qualifizierung. Das zeigt deutlich: Wir müssen die Zahl derer steigern, die eine gründliche und längerfristig angelegte Weiterbildung oder Qualifizierung absolvieren. Ein- Euro-Jobs taugen hingegen kaum dazu, Arbeitslose die Tür zum ersten Arbeitsmarkt zu öffnen; sie sind oft nur ein Strohfeuer ohne große Wirkung.. Nehmen wir das Geld lieber in die Hand, um einen staatlich geförderten dritten Arbeitsmarkt, auf dem Menschen längerfristige Arbeit finden, für diejenigen zu schaffen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance haben. Als Sozialdemokratin und Psychologin beunruhigt mich, dass Hartz-IV-Empfänger als Verlierer ohne Perspektive gebrandmarkt sind oder sich derart abgestempelt fühlen. Hartz IV wird in unserer Gesellschaft nicht mehr als existenzsicherndes Mindestauskommen in Notlagen begriffen, sondern als umfassende Statusbedrohung, aus der kaum auszubrechen ist, wenn man einmal in ihr gefangen ist. Ich unterstützte daher die Forderung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, wonach der Hart IV Satz um 20% aufgestockt werden muss. Außerdem wiederhole ich meine Forderung, die ich bereits in meiner Positionierung 2003 vertreten habe: das Vermögen, das man im Laufe des Arbeitslebens erwirtschaftet hat, und besonders auch das Vermögen von Familienangehörigen, sollte im Falle von Arbeitslosigkeit nicht angetastet werden.. Wir dürfen bei Menschen, die im Falle von Arbeitslosigkeit ohnehin schwer getroffen sind, nicht auch noch das Gefühl entstehen lassen, alles vor der Arbeitslosigkeit erarbeitete sei eigentlich umsonst gewesen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist für mich, die Einmalbeilhilfen und Sonderzahlungen im Rahmen von Hartz IV wieder einzuführen, um krasse soziale Härtefälle abzumildern Ich denke dabei an alte Menschen. Und vor allem an Kinder: Mir ist es unerträglich, wenn ich Schulkinder an ihrem ersten Schultag sehe, die ihre schulische Karriere mit einem zerbeulten Tornister beginnen müssen. Mit der jetzigen Hartz-IV-Regelung sind neue und gut ausgestattete Ranzen schlichtweg unbezahlbar. Was aber bedeutet Chancengleichheit in unserem Bildungssystem, wenn schon der erste Schultag den sichtbaren Stempel auf diese Kinder ärmerer Familien drückt? Mit welchen Gefühlen, ja mit welchen Erwartungen an ihr eigenes Leben mögen diese Kinder nach der Schule nach Hause gehen?
3. Gesetzliche Mindestlöhne einführen
Die moderne Sozialdemokratie muss sich weiterhin als Schutzmacht des "kleinen Mannes" und der "kleinen Frau" verstehen, um ein Wort des verstorbenen Johannes Rau zu zitieren. Darum ist es für mich selbstverständlich, dass die SPD gemeinsam mit den Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Gruppierungen dagegen ankämpfen muss, dass für Millionen Menschen Hartz IV zum dauerhaften Alltag wird - mit allen psychosozialen Problemen, die ein solches Leben mit sich bringt. Schon heute lebt jedes sechste Kind unter 15 Jahren von ALG II, in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit sogar jedes dritte. Dabei sind von den 7,3 Millionen Fürsorgeempfängern "nur" 2,5 Millionen arbeitslos. 1,2 Millionen Geringverdiener - darunter rund 600.000 Vollzeitkräfte - sind auf "aufstockende Leistungen" angewiesen, und es werden mehr. Ich bin überzeugt: Die Zahl derer, die von Vollzeitarbeit nicht mehr leben können, wird in dem Maße steigen, wie Unternehmen Hartz IV als "staatliches Auffangeinkommen" fest für solche Arbeitnehmer einkalkulieren, die sie mit Niedrigst- und Dumpinglöhnen abspeisen. Diesem bedenklichen Trend kann man nur mit gesetzlichen Mindestlöhnen entgegenwirken. Ja, ich bin der festen Ansicht, dass gesetzliche Mindestlöhne eine notwendige Konsequenz aus dem bisherigen Regelwerk der Agenda 2010 sind. Hartz IV ohne gesetzlichen Mindestlohn führt zu Dumpinglöhnen und damit pervertiert so ein Agenda-Instrument ins Gegenteil dessen, was beabsichtigt war.

Agenda 2010 weiterentwickeln heißt das Fördern zu stärken Die Reformen der Agenda 2010 sind das Werk einer SPD-geführten Bundesregierung. Daher ist es auch die Aufgabe und Pflicht sozialdemokratischer Politik, dass wir sie weiterentwickeln. Und Weiterentwicklung im sozialdemokratischen Sinne heißt, dass die soziale Balance wieder hergestellt werden muss, wo bisherige Instrumente der Agenda 2010 sie aus dem Lot gebracht haben. Die Waage zu finden zwischen Alimentierung und Anreizen ist dabei eine außergewöhnlich schwierige Prüfung, die die SPD-geführte Bundesregierung unter Gerhard Schröder begonnen hat. Wir müssen dabei aber unserer sozialdemokratischen Leitlinie treu bleiben. Die Elemente des "vorsorgenden Sozialstaats" sind dabei wichtig, um Menschen künftig die Chancen zu eröffnen, in unserer Gesellschaft aus eigener Kraft zu bestehen. Der "fürsorgende Sozialstaat", mit dem wir diejenigen unterstützen, die es aus eigener Kraft nicht schaffen, ist aber ebenso wichtig und unverzichtbar. Starke Menschen brauchen keinen starken Staat, schwache umso mehr. Unsere ursozialdemokratische Aufgabe war und ist es, die Schwachen zu unterstützen. Durch Vorsorge für bessere Chancen, aber auch durch Fürsorge, dann, wenn sie in Not geraten. Für uns Sozialdemokraten kann es in dieser Frage kein "entweder / oder" geben, beides gehört zusammen. Und daher ist es richtig und notwendig, die Agenda 2010 sozial nachzujustieren.

Mit freundlichen Grüßen,

gez. Dr. Lale Akgün