Frage an Klaus Golbach von Evelyn D. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie
Guten Tag Herr Goldbach,
im Raum Kleve haben wir erneut eine Diskussion rund um die Schullandschaft, Existenz von Hauptschulen und die Entstehung einer Gesamtschule.
Ich persönlich befürworte eine möglichst baldige Erweiterung des Angebotes für mein Kind und die Abschaffung der Hauptschulen.
Wie stehen Sie zu dem Thema ?
MfG
Evelyn Düpper
Sehr geehrte Frau Düpper,
vielen Dank für Ihre Frage, die ich gerne ausführlich nachstehend beantworten möchte. Da das Thema sehr komplex ist, habe ich Ihnen einen Auszug aus dem Landtagswahlprogramm meiner Partei einkopiert. Ich habe an dem Wahlprogramm mitgearbeitet, somit repräsentiert dieses meine persönliche Meinung.
Eine Schule für Alle – länger gemeinsam lernen Bis vor wenigen Jahren war die Grundschule die einzige Schulform in NRW, in der alle Kinder gemeinsam lernten und lebten. Die Grundschulen haben in internationalen Vergleichsstudien besser abgeschnitten als die weiterführenden Schulen. Dieses gemeinsame Lernen und Wachsen hat die Landesregierung durch die Aufhebung der Schuleinzugsbezirke von Grundschulen zerstört. Die irrsinnige Idee der „freien Schulwahl“ durch die Eltern führt zur sozialen Selektion, denn nur bestimmte Eltern können es sich leisten, ihre Kinder vor und nach der Schule weit zu fahren, um sie nicht in die nächstgelegene Schule zu geben. Auch der Städtetag hat sich gegen diese Idiotie gewandt, da die Kommunen die weitere soziale Spreizung in den Grundschulen befürchten.
DIE LINKE. NRW hält die Wiedereinführung der Schuleinzugsbezirke auch entwicklungspsychologisch für unabdingbar: Kinder sollen schon im Grundschulalter zu selbstständigen Menschen werden. Dafür müssen Kinder die Möglichkeit haben, sich nach der Schule und am Wochenende mit anderen Kindern aus der Klasse zu treffen und ihre Freizeit gemeinsam und ohne Eltern in der Wohnumgebung verbringen zu können. Das wird nur durch Schulen möglich, die fußläufig zu erreichen sind – ohne „Eltern-Taxi“.
Grundschulen sollten – wie in vielen europäischen Nachbarländern – als Ganztagsschulen konzipiert werden. Die Landesregierung stellt zurzeit die Ganztagsangebote vorwiegend als Betreuungsangebote für berufstätige Eltern dar. Das ist falsch!
Kinder sind lernbegierig, wie alle Lernforscherinnen und Lernforscher einhellig feststellen. Es kann nicht allein den Eltern aufgetragen werden, Kindern all die Bildungs-, Bewegungs- und Kulturangebote zu bieten, die zu einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung beitragen. Daher muss die Grundschule zu 47 einem ganztätigen Lernraum ausgebaut werden, in dem qualifiziertes Personal den Bildungsauftrag erfüllt.
Das gemeinsame Lernen in einer Schule darf aber nicht mit dem zehnten Lebensjahr enden. Die PISA-Studien zeigen, dass unser mehrgliedriges Schulsystem im internationalen Vergleich schlecht abschneidet. Es führt zu schlechten Abschlüssen und ist sozial stark selektiv. In erschreckend hohem Maße sind in NRW insbesondere Kinder aus verarmten Schichten und Kinder mit Migrationshintergrund betroffen. Für ein Viertel dieser Kinder schafft das NRW-Schulsystem nicht die notwendigen Startbedingungen für den Einstieg in das Berufs- und Erwachsenenleben. Sie werden aufgegeben. Statt Sitzenbleiben und Bewertung über Kopfnoten sollten Schülerinnen und Schüler ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten entsprechend gefördert werden, damit niemand ohne Schulabschluss die Schule verlässt.
Wir kämpfen dafür, dass auch die Kinder in NRW, wie die meisten Kinder in Europa, eine gemeinsame Schule von der ersten bis zur zehnten Klasse in Ganztagsform besuchen.
Die schwarz-gelbe Landesregierung hält trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse am gegliederten Schulsystem fest, behindert sogar die Gründung neuer Gesamtschulen – trotz des vielfachen Wunsches von Eltern und Kommunen.
Deshalb will DIE LINKE. NRW „Eine Schule für Alle“ von der ersten bis zur zehnten Klasse in Ganztagsform. Dies ist eine Schule, die alle Schulformen, auch Förderschulen und Gymnasien einbezieht. Ein zweigliedriges Schulsystem, wie es in anderen Bundesländern umgesetzt wird, dient nur der Rettung des Gymnasiums. Deshalb lehnen wir es entscheiden ab. „Eine Schule für alle“ orientiert sich an den individuellen Lernbedürfnissen einzelner Schülerinnen und Schüler. Sie ist integrativ (Kinder mit und ohne Behinderungen lernen gemeinsam), barrierefrei und sozial. Diese Schule ist jahrgangsübergreifend, fördernd und kennt keine Ziffernnoten. Sie ist fördert das soziale Miteinander und den Spaß am Lernen.
Statt „Verwahranstalt“ muss die Schule Plattform für soziale Entwicklung sein, so dass nicht nur das gemeinsame, ganztägige Lernen, sondern auch eine gemeinsame Gestaltung der Freizeit dazugehört. Sportliche Betätigungen, Hobbies und frei verfügbare Zeit kommen zu kurz. Vielfältige Sport-, Musik- und Freizeitangebote fördern das soziale Miteinander, die Freude am Lernen und sind wichtig für eine gesunde Entwicklung.
Die Landesregierung hat mit der Schulzeitverkürzung am Gymnasium ein heilloses Chaos angerichtet. Die Weigerung der schwarz-gelben Landesregierung, die Lernbedingungen an den Gymnasien kritisch in den Blick zu nehmen, führt zu absurden Folgen: Aus den auch am Gymnasium abnehmenden Schülerinnen- und Schüler-Zahlen ergeben sich abnehmende Kursangebote in der Oberstufe. Schülerinnen und Schüler müssen die Schulen oder ihre Leistungskurse wechseln. Das widerspricht der Idee der gymnasialen Oberstufe, die ein individuelles Profil ermöglichen sollte, was durch die vielen Pflichtbindungen ohnehin schon stark beschränkt wird. Seit vielen Jahren existieren Kooperationen von nachbarschaftlichen Gymnasien und Gesamtschulen, um überhaupt noch Wahlmöglichkeiten in den Leistungskursen zu ermöglichen. Eine Folge dessen ist, dass die Schülerinnen und Schüler während eines Schultages mehrfach den Schulort wechseln.
Deshalb fordert DIE LINKE. NRW die Einführung von Oberstufenzentren, in denen die Oberstufen mehrerer Gymnasien und Gesamtschulen zusammengefasst werden. Das ergibt dann ein umfangreiches Wahlangebot der Leistungs- und Grundkurse, um die Bildungsbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler sicherzustellen.
Grundsätzlich möchte DIE LINKE. NRW diese Oberstufenzentren mit den Berufskollegs zu einem umfassenden System der Sekundarstufe II verbinden.
DIE LINKE. NRW tritt ein für:
- Einen sofortigen Landtagsbeschluss zur Abschaffung des gegliederten Schulsystems in NRW, der den raschen Umbau zu „Einer Schule für Alle“ einleitet.
- Die Abschaffung der verbindlichen Grundschulgutachten.
- Die Rücknahme der Schulzeitverkürzung (G8). 48
- Einen Rechtsanspruch für einen Platz in einer Gesamtschule für jedes Kind, das dort angemeldet wird.
- Die Wiedereinführung der Wohnortbindung für Grundschülerinnen und -schüler.
- Jahrgangsübergreifendes Lernen in Grundschule und weiterführenden Schulen.
- Erhöhung der öffentlichen Bildungsausgaben auf mindestens 7 Prozent des BIP.
- Kleinere Klassen mit maximal 15 Schülerinnen und Schülern.
- Die Einrichtung von Ganztagsschulen mit kostenlosem Mittagessen für alle unter der Verwendung von Produkten aus vorrangig ökologischem, regionalem und saisonalem Anbau. Es soll täglich mindesten ein Menü für Schülerinnen und Schüler, die sich vegetarisch bzw. vegan ernähren, angeboten werden.
- Erweiterung von kulturellen und sportlichen Angeboten im schulischen Ganztag, Einstellung und Beschäftigung von ausreichendem und qualifiziertem Lehr- und Betreuungspersonal nach den Regeln geltender Tariflöhne.
- Kostenlose Schulbücher für alle Kinder.
- Erstattung der Klassenreisekosten für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen.
- Einen landesweit einheitlichen Anspruch auf eine Einschulungsbeihilfe für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen.
- Die sofortige Abschaffung von Kopfnoten und „Sitzenbleiben“.
- Die Einrichtung von Oberstufenzentren, in denen die bestehenden gymnasialen Oberstufen zusammengefasst werden, um ein breit gefächertes Kursangebot zu gewährleisten.
- Einen Sitzplatz für jede Schülerin und jeden Schüler auf der Fahrt im Bus von und zur Schule.
4.
Die Schule als Haus des demokratischen Lernens und Lebens
Eine Reform der Schulstruktur ist untrennbar mit einer inneren Schulreform verbunden. Auch hierbei ist Integration für uns die Leitidee. Integration bedeutet die Verbindung von Theorie und Praxis, das gemeinsame Lernen von Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft, das Arbeiten an einem Lerngegenstand mit unterschiedlichen Methoden und vieles mehr. Bei all diesen Formen von Integration steht der Gedanke im Vordergrund, dass Unterschiede das Lernen und Leben der Menschen in der Schule anregen und bereichern.
Eine soziale, demokratische, chancengleiche Bildung und Weiterbildung in den Kommunen bedeutet für DIE LINKE. NRW auch, dass jedes Kind in seinen musischen, künstlerischen, sportlichen und weiteren Fähigkeiten gefördert werden muss. Der Fokussierung der Schulen auf rein abfragbares Wissen, wie es PISA, die Lernstandserhebungen und zentrale Prüfungen tun, wollen wir entgegenwirken.
Menschen mit und ohne Behinderung können voneinander und müssen gemäß der UN Konvention „Für die Rechte behinderter Menschen“ miteinander Lernen. Anstelle der Aussonderung in Förderschulen muss die sonderpädagogische Förderung in Regelschulen stattfinden.
Die kritische Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und Sexismus ist eine Querschnittsaufgabe, die in der Schule einen wichtigen Stellenwert hat. Auch hier gilt: Sowohl im Unterricht als auch im Leben miteinander, in Entscheidungsprozessen und bei der Lösung von Konflikten ist ein bewusster Umgang mit herrschenden Machtverhältnissen geboten. Die Schule sollte dazu beitragen, traditionelle Rollenbilder zu überwinden, für Mädchen und Frauen Handlungsspielräume zu vergrößern und ihr Selbstbewusstsein zu stärken.
Autonomie und Demokratie spielen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle. Schülerinnen und Schüler sollen von Anfang an lernen, ihr Zusammenleben und ihr Lernen selbst zu gestalten. Das gilt für die Inhalte wie für die Formen des Lernens. Echtes Lernen, mit emotionalem Engagement, mit Neugier und Spaß ist nur möglich, wenn Schülerinnen und Schüler nicht bloße Objekte der Beschulung sind. Sie sollen vielmehr die Möglichkeit bekommen, selbst zu entscheiden, was und wie sie lernen. Eine solche Schule, in der sich Kinder und Jugendliche mit ihren Bedürfnissen ernst genommen fühlen, bietet Raum für ein solidarisches Miteinander. 49
Projektorientierung und die Überwindung von Klassen- und Altersgrenzen sind wichtige Schritte für eine Selbstorganisierung des Lernprozesses. Dabei müssen alle Kinder und Jugendlichen Möglichkeiten der Einflussnahme haben. Arbeitsgemeinschaften, die von Schülerinnen und Schülern selbst initiiert werden, sollen gezielt gefördert werden.
Ein zentrales Element, das zurzeit selbstbestimmtes, solidarisches Lernen, eine demokratische Schule und eine reformpädagogische Erneuerung verhindert, ist die Benotung. Noten reduzieren angeeignetes Wissen auf die Fähigkeit, dieses zu reproduzieren – das heißt, in irgendeiner Weise nachzuweisen, dass “gelernt” wurde. Die Individualität der Schülerin oder des Schülers wird unsichtbar. Dieser Zwang, eine bestimmte Qualität (das Wissen) auf eine Quantität (die Note) umzuformen, bestimmt schon die Form der Aneignung des Wissens und damit auch seine Inhalte. Noten fördern nicht das Verständnis für den Lerngegenstand, sondern das Lernen für das Kurzzeitgedächtnis, weil immer nur für den nächsten Test oder die nächste Arbeit gelernt wird. DIE LINKE. NRW setzt sich deshalb als Alternative zu Noten für ein Recht auf Information der Schülerinnen und Schüler ein: Auf Anfrage sollen alle Schülerinnen und Schüler stets Auskunft über ihren Leistungsstand und ihre individuellen Stärken und Schwächen erhalten können.
DIE LINKE. NRW fordert auch eine Demokratisierung in den Entscheidungsstrukturen der Schulen. SchülerInnenvertretungen sollen sich mit allen Belangen der Schülerinnen und Schüler befassen können. Die Schülerinnen und Schüler sollen des Weiteren im Unterricht über die Auswahl von Themen sowie über die Unterrichtsgestaltung mitentscheiden dürfen. In der Schulkonferenz ist eine Stärkung der SchülerInnenposition geboten. Daher setzen wir uns dafür ein, dass Schülerinnen und Schüler 50 Prozent der Stimmen in der Schulkonferenz bekommen.
DIE LINKE. NRW fordert: Natürliche Mehrsprachigkeit nutzen, statt Qualifikationen vernachlässigen. Kinder mit Migrationshintergrund sind die Zukunft NRWs. Nach den Bevölkerungszahlen haben rund 30 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in NRW in allen Schulformen einen Migrationshintergrund. Diese Gruppe hat demnach einen wesentlichen Anteil an der Zukunft dieser Gesellschaft. Dabei steht für DIE LINKE. NRW das individuelle Recht auf Bildung jedes Kindes an erster Stelle. So können und dürfen wir es nicht länger hinnehmen, dass diese Kinder und Jugendlichen nicht in allen ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten gefördert und in ihren Bildungsmöglichkeiten beschränkt werden. PISA hat ergeben: Ein Kind mit erkennbarem Migrationshintergrund wird bei gleicher Leistung nach der Grundschule nicht so schnell auf ein Gymnasium oder eine Realschule empfohlen wie ein deutsches Kind. Kinder mit Migrationshintergrund müssen - wie alle anderen Kinder - höchstmöglich qualifiziert werden. Insbesondere Sprachförderungsangebote müssen für alle Kinder mit entsprechendem Bedarf stattfinden. Die Mehrsprachigkeit von Kindern mit Migrationshintergrund muss als Chance verstanden und gefördert werden. So sollen diese Sprachkenntnisse in den Grundschulen in der Form von Ergänzungsunterricht und in weiterführenden Schulen als offene Fremdsprachenangebote für alle gefördert werden.
DIE LINKE. NRW tritt ein für:
- Förderung der Sprachkenntnisse von Kindern mit Migrationshintergrund durch für alle offenen Ergänzungsunterricht.
- Fortbildung der Lehrkräfte mit den Fächern Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache.
- Zweisprachige Alphabetisierung in der Grundschule - solche Modelle existieren in einigen Städten bereits mit großem Erfolg.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Golbach