Warum findest Du den Fraktionszwang schlecht und welche Rolle sollten die Parteien und die Parteilosen für Dich in Zukunft haben?
Du sprichst Dich gegen Fraktionszwang aus. Die Befürworter sagen, der ist nötig um eigene Positionen auch durchsetzen zu können und dient auch der Stabilität und Verläßlichkeit der Regierungspolitik. Das sind ja keine schlechten Argumente. Warum findest Du den Fraktionszwang schlecht? Welche Rolle sollten die Parteien und die Parteilosen für Dich in Zukunft haben?
Hallo Paul, meiner Meinung nach sollte nicht der Fraktionszwang¹, sondern der zwanglose Zwang des besseren Arguments gelten und zwar nicht nur innerhalb der Fraktion, sondern im gesamten Parlament und der Republik.
Parteien teilen die Menschen in und außerhalb der Parlamente in Gruppen. Eine offene Debatte, frei von Ideologien, würde in meinen Augen zu einem besseren, demokratischerem Ergebnis führen als wenn eine knappe Mehrheit von Abgeordneten etwas „durchsetzt“. Menschen sind nicht „links“, „rechts“ oder „konservativ“, sie haben höchstens solche Anschauungen. Viele Menschen, sofern sie nicht durch eine Parteidoktrin geschliffen wurden, haben mal „linke“ mal „liberale“ und dann wieder „konservative“ Anschauungen. In der Geschichte hat sich gezeigt, dass kein Weltbild ohne Fehler und Probleme ist. Warum also nicht daraus lernen und die jeweiligen Ansätze verfolgen, die auf der Welt am besten funktionieren, ohne sie von vorne herein als mit der Partei nicht kompatibel zu verwerfen?
Hauptsächlich habe ich ein Problem damit, dass Direktkandidat*innen, die die Interessen des Wahlkreises vertreten sollen, dem Fraktionszwang unterliegen.
Ich sehe uns parteifreie Kandidaten als echte Volksvertreter*innen. Wir kommen aus den Wahlkreisen und vertreten die Interessen der Menschen im Wahlkreis, ohne sie mit den Interessen einer Partei abwiegen zu müssen.
In meinem Wahlkreis hat der Direktkandidat der SPD bei der Wahl 2017 nur 18.6% der möglichen Stimmen gewonnen, also wollten vier von fünf Menschen jemand und etwas anderes, als er und seine Partei vertreten. Damit wären zumindest vier von fünf Menschen besser mit einem Kandidaten bedient, der sich nur ihnen verpflichtet sieht.
Deshalb möchte ich in meinem Wahlkreis einen offenen Diskurs über die Themen führen, die uns betreffen und für denjenigen Vorschlag im Bundestag stimmen, der für Neukölln der beste ist.
Wenn die Spaltung der politischen Debatte so weitergeht, stehen wir möglicherweise bald vor einer Minderheitsregierung. In Skandinavien und dort besonders in Dänemark funktioniert das sehr gut. Unsere Demokratie muss noch etwas reifen bis unsere Parteien zu einer konstruktiven Zusammenarbeit in der Lage sind. Gerade im Hinblick darauf können parteifreie Abgeordnete mit ihren Erfahrungen aus dem Wahlkreis Brücken bauen.
Die letzten 16 Jahre können sicher als „Stabil“ und „Verlässlich“ beschrieben werden. Auf all die Herausforderungen, die zur Aufrechterhaltung dieser Verlässlichkeit nicht angegangen wurden, auf die Wahlversprechen, die nicht eingehalten worden sind, ist an anderer Stelle ausführlich hingewiesen worden. Wollen wir lieber Stabilität als Minister, die sich im wiederholten Falle als unfähig erwiesen haben, nicht auszutauschen nur um die Koalition nicht zu gefährden? Können wir mit diesem politischen System die mitgeschleppten Herausforderungen der Vergangenheit und die der Zukunft meistern oder brauchen wir eine Sachpolitik ohne Fraktionszwang über Parteiideologien hinweg?
¹: [Fraktionszwang] „betont den Druck, dem einzelne Abgeordnete von Seiten der Fraktionsführung und anderen Fraktionsmitgliedern ausgesetzt sind, eigene Positionen zugunsten der Fraktionssicht zurückzustellen. Aus Parteiensicht wird hingegen oft der Begriff Fraktionssolidarität benutzt, der das gemeinsame Interesse der Fraktionsmitglieder an einem geschlossenen Auftreten gegenüber den anderen Parteien unterstreicht.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Fraktionsdisziplin