Frage an Kerstin Andreae von Silke S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Andreae,
aus meiner Sicht gibt es in Deutschland eine riesen Entpolitarisierung wichtiger Dinge. Die Themen im Wahlkampf sind m.E. vor allem Dinge, die man nicht beeinflussen kann. Trump, Erdogan/ Türkei, Ukraine/Putin. Stimmen Sie mir zu, dass alltägliche Dinge aus diesem Grund in den Hintergrund rutschen?
Ein Beispiel: Deutschland nimmt mehr Steuern ein, aber es gibt sehr viel Obdachlosigkeit. Es ist von 335 000 die Rede, siehe diese Link: http://www.deutschlandfunk.de/sozialstatistik-immer-mehr-obdachlose-in-deutschland.1818.de.html?dram:article_id=373118
Wozu noch Einwanderung, wenn nicht mal alle hiesigen Bürger*innen Wohnungen haben?
Ich habe eine Wohnung, in der ich ständig gestört bin, die zu klein ist. Doch ich bin krank und habe in Baden-Württemberg kaum eine Chance eine andere bezahlbare Wohnung zu bekommen. Warum investiert man nicht die massiven Steuereinnahmen zu einem größeren Teil für den sozialen Wohnungsbau? Aus meiner Sicht federt man die Folgen der Zuwanderung, der Globalisierung usw. nicht gerecht ab, stimmen Sie dem zu?
Zum anderen möchte ich Sie fragen, warum Deutschland nicht eine "große Schweiz" werden könnte? Ein souveräner Staat, ohne EU-Technokraten und EU-Bevormundung, mit sicheren Grenzen, mit Volksabstimmungen?
Sind Sie für eine Verlängerung der Legislaturperiode des Bundestags auf 5 Jahre? Wäre das nicht eine weitere Entdemokratisierung?
Was wollen Sie gegen Lobbyismus tun z.B. anhand eines Lobbyistenregisters? Und was wollen Sie tun, um die Macht von Global-Player, Banken und Großerben zu beschränken?
Mit freundlichen Grüßen
S. S.
Sehr geehrte Frau S.,
das sehe ich nicht so. Ich erlebe gerade im Wahlkampf eine deutlich stärkere Politisierung der Menschen als noch vor vier Jahren. Die Angriffe der rechtsnationalen AfD auf unsere demokratischen Werte und Institutionen mag hierfür ein Grund sein, aber auch die aktuelle Weltlage, die viele Menschen umtreibt. Sie haben ja selbst einige Punkte genannt (Trumpf, Erdogan, Putin, aber auch der Brexit). Das bedeutet aber nicht, dass andere Themen in den Hintergrund rutschen. Bei meinen Haustürbesuchen, auf unseren Veranstaltungen oder am Infostand geht es in erster Linie um soziale Gerechtigkeit, die prekäre Wohnsituation und darum, wie uns eine gute Integration gelingt.
In einem Punkt gebe ich Ihnen recht: Wir haben ein Deutschland der zwei Realitäten: Auf der einen Seite Wirtschaftswachstum, hohe Beschäftigung und sprudelnde Steuereinnahmen aber auf der anderen Seite, immer mehr Rentnerinnen und Rentner, die Altglas sammeln müssen, um über die Runde zu kommen sowie eine hohe Armutsrate unter den Kindern - bundesweit sind 2,5 Millionen Kinder direkt von Armut bedroht. Aus diesem Grund haben wir Grüne ein Reformpaket in Höhe von jährlich 12 Milliarden Euro geschnürt, das Familien entlasten soll. Dazu gehört ein Kindergeldbonus und eine Kindergeldgrundsicherung, damit Eltern mit kleinen Einkommen die gleiche Unterstützung und steuerliche Entlastung bekommen wie Eltern mit hohem Einkommen.
Bezahlbarer Wohnraum ist inzwischen in fast allen größeren Städten Mangelware. Ganz besonders dann, wenn – wie in Freiburg – die Lebensqualität hoch ist und viele Menschen dort leben wollen.
Alleine Freiburg braucht mindestens 1000 neue Wohnungen pro Jahr. Das ist v.a. für die Verantwortlichen vor Ort eine große Herausforderung. Der Bund kann hier aber die Kommunen unterstützen, z.B. mit einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit für faires, gutes und günstiges Wohnen. Dazu gehören eine Million neue Wohnungen mit Sozialbindung und Wohnraumförderung für junge Familien sowie Menschen mit geringem Einkommen. Wir wollen dabei besonders genossenschaftliche Projekte wie das Freiburger Mietshäuser-Syndikat unterstützen. Auch die Stadt Freiburg versucht gegenzusteuern, indem sie z.B. neue Wohnquartiere am Wiehre Bahnhof, auf dem ehemaligen MEZ-Areal oder dem früheren Opel-Gelände schafft. Im neuen Stadtteil Dietenbach entstehen immerhin 5.500 neue Wohneinheiten, wenn auch leider erst in einigen Jahren. Aber die Gleichung: Weniger Einwanderung = mehr bezahlbarer Wohnraum funktioniert nicht. Das Asylgrundrecht ist Teil unserer Verfassung und eine Lehre aus der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus. Grundrechte sind nicht verhandelbar oder durch künstliche Obergrenzen zu kontingentieren. Wir Grüne setzen uns für effiziente und faire Asylverfahren ein. Nicht jeder, der zu uns kommt, wird in Deutschland bleiben können, aber viele Geflüchtete werden bleiben. Es braucht daher eine nachhaltige Integrationspolitik. Damit Integration gelingt, brauchen wir Orte zum Austausch und Kennenlernen, Sprachkurse und Bildungsangebote, Zugang zur Gesundheitsversorgung und geeigneten Wohnraum. Wir müssen diese Punkte anpacken, damit Integration funktioniert. Integration von Flüchtlingen findet tagtäglich statt: dank zahlreicher Freiwilliger und engagierter Beschäftigter in Verwaltung und Beratungsstellen, durch Vereine, Religionsgemeinschaften und Betriebe – und durch das Engagement der Geflüchteten selbst. Fazit: Wir brauchen beides - bezahlbarer Wohnraum und eine gute Einwanderungspolitik. Und das ist auch möglich.
Die EU ist das Wertvollste, was dieser Kontinent je geschaffen hat. In den vergangenen 70 Jahren wurde Großartiges geleistet: Aus einst verfeindeten Staaten wurden Freunde und Partner. Europa prägt unser Leben. Vor allem für die junge Generation gehört europäisches Miteinander zum Alltag. Wir lernen, studieren, leben, lieben in Paris, Warschau oder Athen. Wir reisen vielerorts ohne Pass vorzuzeigen. Wir zahlen mit spanischen Euro in Estland oder deutschen Euro in Italien. Ob bei zivilgesellschaftlichen Engagement, in Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft, ob in Behörden oder Kultureinrichtungen: Wir vernetzen uns von Lissabon bis Nikosia, von Helsinki bis Valletta, um gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden, die kein Staat mehr allein bewältigen kann. Gerade die junge Generation lebt Europa - wir wollen, dass das so bleibt. Ich bin auch ein Freund direkter Demokratie. Bürgerbeteiligungen und Volksinitiativen sind wichtige Instrumente, Menschen aktiver an der politischen Willensbildung und an Entscheidungen teilhaben zu lassen. Dazu braucht es aber keinen Rückschritt in einen Nationalstaat. Ich sehe die Zukunft in der Stärkung der europäischen Demokratie: Das EU-Parlament als einzige direkt gewählte EU-Institution muss gestärkt werden. Es braucht mehr Transparenz im Rat, in der Eurogruppe und bei Lobbyismus. Notwendig sind starke Informationsrechte für nationale Parlamente und ein besserer Zugang zu EU-Beteiligungsmöglichkeiten wie der Europäischen Bürgerinitiative.
Es gibt gute Gründe für eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahren(wie es im Übrigen auch bis auf Bremen in allen Bundesländern bereits der Fall ist). Neben bürokratischen und finanziellen Gründen gibt es rein praktische: Es braucht eine gewisse Zeit, bis sich die jeweils neue Bundesregierung zusammengefunden hat und voll arbeitsfähig ist und auch neue Abgeordnete müssen sich in den ersten Monaten im Bundestag zunächst zurecht finden und in ihre Themen einarbeiten. Im letzte Jahr vor der Wahl wiederum werden kaum noch relevante Themen bearbeitet. Wir Grüne würden einer solchen Verlängerung aber nur zustimmen, wenn gleichzeitig das Recht auf Volkentscheide im Grundgesetz verankert wird.
In einer pluralistischen Gesellschaft ist es legitim, dass zahlreiche betroffene Gruppen ihre Wünsche oder Sorgen im Gesetzgebungsprozess zur Sprache bringen wollen. Doch der Einfluss von Interessensgruppen, beziehungsweise Lobbyisten, muss transparent sein und nach klar definierten Regeln erfolgen. Wir Grünen fordern seit Jahren ein gesetzliches, verbindliches Lobbyregister. Verbände, Vereine, Unternehmen, Gewerkschaften, Kirchen und weitere Institutionen müssten sich in dieses verbindliche Register eintragen, wenn sie die Absicht haben, Entscheidungen und Abläufe der Regierung und des Parlamentes zu beeinflussen. Das Register wäre öffentlich einsehbar. Sie enthielt Informationen über die handelnden Interessensvertreter, deren Interessengebiete und die finanziellen Aufwendungen. Außerdem würde über ein sogenanntes Footprint-Prinzip erkennbar, an welchen Vorlagen der Regierung Lobbyisten mitgewirkt haben.
Mit bis zu 500 Milliarden Euro wurden Banken in der Finanzkrise gerettet, Staaten ächzen unter den Schulden, Geld für öffentliche Investitionen fehlt. Die Regierungen haben daraufhin viel zu zaghaft reguliert. 10 Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise bestehen noch immer erhebliche Zweifel an der Stabilität des deutschen und europäischen Finanzsektors. Noch immer gibt es Banken die so groß sind, dass ihr Zusammenbruch das ganze Finanzsystem ins Wanken bringen würde. Noch immer müssten die SteuerzahlerInnen einspringen, um das zu verhindern. Wir Grüne fordern u.a. eine Schuldenbremse für Banken, die schnell eingeführt und dann schrittweise verschärft wird, ein Ende von „too-big-to-fail“-, durch konsequente Einhaltung der Regeln des Abwicklungsmechanismus, ein echtes Trennbanksystem und Kapitalzuschläge für Großbanken. Große und komplexe Banken, die ein Risiko für das Finanzsystem darstellen müssen mehr Auflagen erfüllen, kleine ungefährliche Banken können Erleichterungen erhalten.
Wir wollen außerdem eine wirtschaftspolitisch vernünftige Erbschaftsteuer. Sie soll Arbeitsplätze schützen, den Fortbestand von Unternehmen nicht gefährden und ihre Investitionsfähigkeit bewahren. Sie soll aber auch dafür Sorge tragen, dass die besonders Leistungsfähigen in Zukunft einen größeren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten.
Mit freundlichen Grüßen
Kerstin Andreae