Frage an Kerstin Andreae von Martin K. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrte Frau Andreae,
Ich habe diese Anfrage am 11.9.2017 an Herrn Lindner/FDP gestellt:
"Ich habe in meinen Anfragen (Frage 11 am 9.8. und Frage 3 am 3.8.2017) an Sie zum deutschen Sozialsystem geschätzt, dass den deutschen unselbständigen Arbeitnehmern im Vergleich zu Ihren österreichischen KollegINNen jährlich 300 MILLIARDEN, also beinahe die gesamten Ausgaben des Bundes für 2017 vorenthalten werden, oder in anderer Relation, die gesamte jährliche öffentliche Familienförderung. Dazu kommen natürlich noch überhöhte Beiträge anderer Bevölkerungsgruppen und substantielle Belastungen der Arbeitgeber, also der Arbeitskosten!
Sie sind nicht auf meine Schätzung eingegangen, was mich zur Überzeugung bringt, sie ist zutreffend oder sogar zu gering ausgefallen. Trifft das zu?
Ich frage Sie angesichts solcher Summen, ob die von Ihnen behaupteten Vorteile es wert sind, die Arbeitskosten drastisch in die Höhe zu treiben und gleichzeitig den Weg in die massive Altersarmut weiter zu verfolgen. In Österreich sind die Leistungen der Sozialversicherung v.a. bei der Altersversorgung laut OECD-Studie 100 % besser, siehe Finanztest 3/2016! Und das Gesundheitssystem ist nicht schlechter.
Das Problem der hohen Arbeitskosten wird ja besonders von Ihnen und Ihrer Partei immer beklagt und die grenzenlose Flexibilisierung der Arbeit zulasten der Arbeitnehmer, ihrer Familien, ihrer Gesundheit und ihres Privatlebens gefordert! Hier – bei den Lohnnebenkosten - gibt es einen sehr vielversprechenden Ansatz. Sind Sie bereit, diese zukunftsträchtigen Wege zu beschreiten?"
Sehen Sie, anders als die FDP, nach Analyse der immensen Unterschiede, Spielräume, das Sozialsystem sozialer und verständlicher, unselbständige Arbeit lebenswerter (statt flexibler) zu machen, die Arbeitskosten zu senken und das Alter auch bei Mindestlohn abzusichern?
Die 300 Milliarden-Schätzung stammt aus eigenem Erleben - s. Lindner-Anfrage vom 9.8 (#11).
Mit besten Grüßen
M. K.
Sehr geehrter Herr K.,
auf Ihre 300-Mrd.-Schätzung werde ich nicht näher eingehen, da hierfür die empirische Grundlage fehlt. Auch der Vergleich zu Österreich hinkt. Nehmen Sie nur mal die Rentenversicherung: Auf den ersten Blick scheint das österreichische Modell attraktiver als das deutsche. Tatsächlich liegt der Beitragssatz zur gesetzlichen Rente dort aber mit 22,8% deutlich höher als in Deutschland (18,7%). In Deutschland hat man einen Rentenanspruch, wenn man eine Wartezeit von fünf Jahren aufweist. In Österreich ist das erst der Fall, wenn fünfzehn Jahre erreicht sind. Das führt dazu, dass in Österreich mehr Personen in das System einzahlen, ohne einen Anspruch zu erwerben. Die hohen Zugangsvoraussetzungen führen aber auch dazu, dass Österreich eine relativ hohe Altersarmut sowie einen relativ hohen Gender Pension Gap, also eine hohe geschlechterbezogene Altersvorsorgelücke aufweist. Übrigens trägt sich auch das österreichische Rentenmodell nicht von selbst, sondern wird vom Steuerzahler mit rund 11 Milliarden Euro im Jahr subventioniert. Das sind 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die wenigsten Österreicher haben eine private Altersvorsorge und verlassen sich völlig auf die gesetzliche Rente. Die beträgt aber im Schnitt gerade mal 1.100 bis 1.200 Euro im Monat – und auch hier schlägt der demografische Wandel langsam um, soll heißen, das Rentenniveau kann auch dort in den nächsten Jahren sinken. Das österreichische Modell eignet sich also kaum als Vorbild für Deutschland.
Aber auch ich sehe Verbesserungsbedarf in unseren Sozialsystemen. Deutschland und der deutschen Wirtschaft geht es gut. Doch Deutschland ist auch ein ungleiches Land. Seit zehn Jahren bewegen sich die Armutszahlen auf Rekordniveau. Acht Millionen Menschen in Deutschland leben von Grundsicherung. In einer inklusiven Gesellschaft gehören alle dazu und niemand wird ausgegrenzt. Das ist unser Ziel. Deshalb wollen wir ein soziales Sicherungsnetz, das die Menschen wirkungsvoll vor Armut schützt und selbstbestimmte Teilhabe für alle ermöglicht. Wir Grüne arbeiten an Konzepten und parlamentarischen Initiativen, in denen wir uns dafür einsetzen, dass Menschen nicht allein deshalb bedürftig werden, weil sie Kinder haben oder sich ihre Wohnung nicht leisten können, das knappe Einkommen keine Rücklagen fürs Alter zulässt oder das BAföG nicht reicht.
Wer arbeitet, muss davon leben können. Jeder zehnte Beschäftigte ist trotz Erwerbstätigkeit von Armut bedroht. 1,2 Millionen Menschen müssen ihre Einkünfte mit Hartz IV aufstocken, knapp 200.000 zusätzlich zu einem Vollzeitjob, und das trotz Mindestlohn. Vor allem bei Selbstständigen und Familien mit Kindern, besonders Alleinerziehenden, reicht das eigene Einkommen oft nicht aus. Wir fordern daher gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Steuern, Abgaben und soziale Leistungen sollen so aufeinander abgestimmt werden, dass Erwerbstätige mit geringem Einkommen entlastet werden und sich Erwerbsarbeit auch finanziell lohnt. Für Selbstständige sollen Mindesthonorare ermöglicht werden und die Beraterinnen und Berater in den Jobcentern sollen den individuellen Fähigkeiten, Wünschen oder Vorschlägen der Arbeitslosen Rechnung tragen.
Die Gesundheits-, Pflege- und Rentenversicherung wollen wir zu einer Bürgerversicherung und die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterentwickeln. Die Idee der Bürgerversicherung beinhaltet, dass alle Bürgerinnen und Bürger unter der Berücksichtigung aller Einkunftsarten in die sozialen Sicherungssysteme einbezogen werden und damit gut abgesichert sind.
Im Mittelpunkt unsere Sozialpolitik stehen Familien und Kinder. In unserem wohlhabenden Land ist jedes fünfte Kind von Armut bedroht, zwei Millionen Kinder beziehen Hartz IV. Kinder dürfen kein Luxus sein - doch in vielen Familien reicht das Geld oft nicht aus. Wir Grüne wollen Chancengleichheit für alle Kinder. Neben einem Zugang zu guter Bildung ist eine existenzsichernde Familienförderung das A und O, um Kinderarmut zu verhindern. Wir haben dafür das "Familien-Budget" entwickelt.
Die Grundsicherung hat die wichtige Aufgabe, als letztes Netz Menschen vor Armut zu schützen und selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen. Denn das Recht auf ein Leben in Würde steht uns allen zu. Wer Anspruch auf Leistungen hat, muss sie auch erhalten. Die Bedarfe sind so anzusetzen, dass sie Teilhabe am sozialen Leben, an Bildung, Kultur und Mobilität auch tatsächlich ermöglichen.
Mit freundlichen Grüßen
Kerstin Andreae