Frage an Katrin Göring-Eckardt von Robert W. J. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Göring-Eckardt,
die Diskussion um eine mögliche Wahlrechtsreform ist ja nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes neu entbrannt.
Meine Frage dazu lautet, wie Sie respektive Ihre Partei zu einer unumschränkten Einführung des allgemeinen Wahlrechts stehen? Damit meine ich ein Wahlrecht, bei dem alle Bürger eine Stimme haben, die zählt und politisch Gehör findet. Schließlich wird bislang eine große Gruppe (ca. 25 %) des Volkes, von dem laut GG die Staatsgewalt ausgeht, nicht berücksichtigt. Kinder und Jugendliche, die ganz besonders von Entscheidungen der Legislative betroffen sind, haben faktisch keine Stimme, müssen jedoch viele Entscheidungen, die heute getroffen werden, in späteren Jahren "ausbaden". Dies ist meines Erachtens undemokratisch. Wenn Säuglinge Großaktionäre, Kinder und Jugendliche geschäfts- und straffähig sind, warum können sie nicht wahlberechtigt sein?
Vielleicht gibt es ja auch schon Initiativen dazu? Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um dies in die Diskussion einzubringen!
Über eine Stellungnahme Ihrerseits würde ich mich sehr freuen. Mit bestem Gruß,
Robert W. Jahn
Sehr geehrter Herr Jahn
vielen Dank für Ihre Frage zum Thema Kinder- bzw. Familienwahlrecht. Immer wieder flammt die Debatte über die Einführung eines Kinder- oder Familienwahlrechtes auf. So wegen des Gruppenantrages im Deutschen Bundestag "Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an" oder anlässlich des von Ihnen erwähnten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Das Grundmotiv für die Forderung nach einer solchen Wahlrechtsänderung ist nachvollziehbar: Kindern und Familien müssen mehr Gehör finden. Angesichts der Alterung und Schrumpfung unserer Gesellschaft ist es für sie tendenziell schwieriger, die angemessene Berücksichtigung ihrer Interessen und Belange durchzusetzen. Gleichwohl hat Deutschland in den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte auf dem Weg zu einem kinderfreundlichen Land gemacht. Diesen Weg gilt es weiter zu gehen.
Auch wenn eine breite Diskussion über die Lage unserer Kinder und Familien wichtig und notwendig ist, begegnen wir dem Vorschlag eines Kinderwahlrechtes außerordentlich skeptisch. Verfassungsrechtliche, demokratietheoretische und pragmatische Einwände lassen an der Eignung dieses Instrumentes zweifeln.
Das vorgeschlagene Kinderwahlrecht ist verfassungsmäßig höchst problematisch. Es untergräbt das Prinzip der Höchstpersönlichkeit des Wahlrechts. Kern des Kinderwahlrechts ist die Übertragung des Stimmrechts von den Kindern auf die Eltern. Dies ist nicht vergleichbar mit der bestehenden Regelung, bei denen Gebrechliche oder Behinderte eine technische Hilfestellung durch andere Personen bei der Stimmabgabe erhalten können. Auch verstößt der Vorschlag gegen die Gleichheit der Wahl, da Eltern faktisch über mehrere Stimmen verfügen. Ein potenziertes Wahlrecht ist aber mit guten Gründen der Historie überlassen und vom Grundgesetz ausgeschlossen worden.
Wir sehen auch nicht, wie das Kinderwahlrecht garantieren kann, dass die durch die Eltern treuhänderisch wahrgenommenen Stimmen dem Kindeswunsch entsprechen. Was bei einem Kleinkind noch nachvollziehbar ist, wird bei zunehmendem Alter der Kinder und Jugendlichen immer fragwürdiger. Viele Jugendliche haben eine von den Eltern abweichende politische Meinung. Auch wenn Kinder ihre Interessen und eine Wahlabsicht reflektieren und äußern können, bliebe es ihren Eltern überlassen, diesem Wunsch zu entsprechen oder nach eigenen Erwägungen zu wählen.
Ganz praktische Schwierigkeiten ergeben sich hinsichtlich der Frage, welcher Elternteil in Vertretung abstimmen soll. Nicht nur bei gemeinsamem Sorgerecht geschiedener oder getrennt lebender Elternteile ist zusätzlicher Konfliktstoff absehbar. Wie ein Familienwahlrecht in der Einwanderungsgesellschaft funktionieren soll, ist ebenfalls offen. Sollen die eingebürgerten Eltern für die Kinder und Jugendliche anderer Staatsangehörigkeit mitentscheiden dürfen? Dürfen ausländische Eltern an die Wahlurne treten, wenn ihre Kinder deutsche Staatsbürger sind? Es sind auch diese Ungereimtheiten, die uns dem Vorschlag, ein Kinderwahlrecht einzuführen, mit großer Skepsis begegnen lassen.
Manche Befürworter des Kinderwahlrechts bieten für Streitfälle innerhalb der Familie immer wieder den Gang zum Familiengericht oder einer Schiedsstelle an. Dieser Vorschlag wirft nicht nur praktische Probleme auf - der Arbeitsanfall in Familiengerichten oder entsprechenden Stellen dürfte kurz vor Wahlen weder vertretbar noch zu bewältigen sein. Er unterläuft auch das Prinzip der geheimen Stimmabgabe und verletzt so grundlegende Regeln der demokratischen Wahl.
Wir meinen: statt stellvertretendem Wahlrecht für die Eltern müssen die direkten und aktiven Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen auf allen politischen Ebenen gestärkt und ausgebaut werden. Kinder und Jugendliche wollen ihre Interessen möglichst eigenständig vertreten können. Durch vernünftige, altersadäquate Beteiligungsmöglichkeiten lernen sie darüber hinaus frühzeitig demokratische und tolerante Denk- und Verhaltensweisen. Dies ist der Weg, auf dem wir weiter voranschreiten sollten.
Mit freundlichen Grüßen
Katrin Göring-Eckardt