Frage an Katherina Reiche von Mirko H. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrte Frau Reiche,
als Bewohner Ihres Wahlkreises richte ich folgende Frage an Sie: Warum haben Sie dem Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertrag Ihre JA-Stimme gegeben, obwohl in diesem Vertragswerk u.a. die Wiedereinführung der Todesstrafe unter bestimmten Bedingungen (Erläuterungen zur Charta der Grundrechte zu Artikel 2, Absatz 2 EMRK), die Möglichkeit eines, u.U. auch präventiven, Militäreinsatzes im Innern der EU (AEUV Art. 222), die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten (Aufrüstungsverpflichtung - EUV Art. 43 (3) II) und zur Ergreifung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors (EUV Art. 45 (1) e), die Möglichkeit von Kampfeinsätzen im "Dienste der Interessen" der EU, zu denen insbesondere auch wirtschaftliche Interessen zählen (EUV Art. 42 (5) und 43 (1)) und die Festschreibung des bekannten Demokratiedefizits der EU (vgl. EUV Art.17 und AEUV Art. 244ff. für die Machtbündelung bei der Kommission, weitgehend ohne äußere Kontrolle) geregelt ist?
Wie begründen Sie Ihre Zustimmung zu diesen Punkten dieses Vertragswerkes?
Vielen Dank für Ihre Antwort, die den entscheidenden Punkten nicht
ausweicht.
Sehr geehrter Herr Heinke,
vielen Dank für Ihre Anfrage vom 16.05.2008, in der Sie Ihre Bedenken gegen den Lissabonner Vertrag formuliert haben.
Am 24. April 2008 hat der Deutsche Bundestag in namentlicher Abstimmung und mit großer parlamentarischer Mehrheit dem Ratifikationsgesetz zum Vertrag von Lissabon zugestimmt. Im Folgenden möchte ich Ihnen darlegen, warum dieses Vertragswerk unbedingt zustimmungswürdig war und inwiefern die von Ihnen gegen die Zustimmung vorgetragenen Argumente meines Erachtens einer anderen Bewertung bedürfen.
Lassen Sie mich zunächst auf das Argument eingehen, dass die Öffentlichkeit in den Diskussionsprozess über den Vertrag von Lissabon nicht einbezogen gewesen sei und der Vertrag ohne Transparenz für Wählerinnen und Wähler und ohne öffentliche Diskussion ratifiziert werde. Man kann sich natürlich immer eine breitere Beteiligung der Öffentlichkeit wünschen. Bei Politikern wird ein solches Anliegen in aller Regel sogar auf offene Ohren stoßen. Gleichwohl werden häufig die Angebote zur öffentlichen Diskussion nur von bestimmten Interessengruppen wahrgenommen, bei denen eine Befassung zumeist beruflich begründet ist. Ich darf in dem Zusammenhang darauf hinweisen, dass der federführende EU-Ausschuss im Deutschen Bundestag anlässlich des Ratifizierungsverfahrens zwei Expertengespräche und eine Anhörung zu den inhaltlichen Neuerungen des Vertrages von Lissabon durchgeführt hat, die öffentlich waren und sich einer großen Resonanz erfreuten. Ich gestatte mir zugleich den Hinweis, dass es sich bei den Neuerungen des Vertrages von Lissabon europarechtlich nicht um eine völlig neue Materie gehandelt hat, sondern der Reformvertrag in beträchtlichem Umfang die politische Substanz des europäischen Verfassungsvertrages aus dem Jahre 2004 übernommen hat, der leider in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden scheiterte. Als Ergebnis aus den Anhörungen und Expertengesprächen kann ich Ihnen berichten, dass mit Ausnahme der von der Fraktion DIE LINKE benannten Sachverständigen die Experten einmütig den Abgeordneten die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon empfohlen haben.
Ich kann auch Ihrem Argument, der Vertrag sei undemokratisch und behebe das demokratische Defizit des EU-Verfassungsvertrags nicht, schwerlich zustimmen. Das Scheitern des Verfassungsvertrages hat den Reformprozess in Europa über Jahre zur Stagnation verurteilt, die erst durch die Deutsche EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 beendet werden konnte. In der Diskussion über die Frage, wie der politische Reformprozess fortgesetzt werden könne, hat sich herauskristallisiert, dass eine Reihe von EU-Mitgliedstaaten dem politischen Ziel, Europa eine Verfassung zu geben, skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen. Insofern greift der Vertrag von Lissabon genau diese Bedenken auf und beschränkt die politischen Reformen auf jene Punkte, die von allen Mitgliedstaaten gemeinsam erstützt werden. Es ist aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar, aus dieser Konsequenz etwas Undemokratisches abzuleiten. Hinsichtlich des demokratischenDefizits möchte ich anmerken, dass dem EU-Parlament zwar in der Tat weiterhin kein Initiativrecht zusteht. Die Europäischen Institutionen sind jedoch historisch bedingt mit einem Demokratiedefizit „aufgewachsen“, das im Laufe der Geschichte allerdings schon erheblich gemildert werden konnte. Richtig bleibt dennoch, dass die Demokratisierung der Europäischen Union in kleinen Schritten vorankommt und auch der Vertrag von Lissabon dazu seinen Beitrag leistet. Als großer Erfolg ist z. B. zu verbuchen, dass durch die Festlegung des Mitentscheidungsverfahrens als Regelverfahren in der europäischen Gesetzgebung das Europäische Parlament zum gleichberechtigten Gesetzgeber neben dem Rat wird.
Dass die meisten EU-Mitgliedstaaten die Ratifizierung im Wege von Parlamentsbeschlüssen durchführen, ist in den nationalen Verfassungen für die In-Kraft-Setzung von multilateralen Verträgen geregelt. Lediglich die Republik Irland muss zur Ratifizierung ein Referendum bzw. eine Volksbefragung durchführen. Die Erfahrungen mit dem Verfassungsvertrag zeigen im Übrigen, dass die an der Volksbefragung teilnehmenden EU-Bürger häufig nicht die gestellten Fragen beantworten, sondern politische Rechnungen begleichen, die mit dem Gegenstand des Referendums im Grunde nichts zu tun haben. Es ist natürlich theoretisch möglich, dass eines Tages auch in der Bundesrepublik Deutschland ein Volksentscheid für wichtige politische Fragen eingeführt wird. Gegenwärtig gibt es für die dazu notwendige Änderung des Grundgesetzes im Deutschen Bundestag jedoch keine parlamentarische Mehrheit.
Leider kann ich auch Ihrer Behauptung nicht zustimmen, mit dem Lissabonner Vertrag werde eine neoliberale Wirtschaftsform festgeschrieben, obwohl damit seit Jahrzehnten eine Verarmung breiter Teile der Bevölkerung innerhalb der Europäischen Union, vor allem aber der so genannten Dritten Welt, aber auch in Deutschland einhergehe. Abgesehen davon, dass sich der Begriff „neoliberal“ im Vertrag von Lissabon überhaupt nicht findet – im Gegenteil: die Europäische Union bekennt sich erstmals zu einer sozialen Marktwirtschaft (Art. 3 Abs. 3 Vertrag über die Europäische Union), wie sie sich in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Einführung durch Ludwig Erhard bewährt und soziale Sicherheit und Wohlstand in einem Ausmaß ermöglicht hat, wie sich dies die Gründerväter der Bundesrepublik kaum vorstellen konnten. Alle Statistiken belegen, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ausnahmslos, in besonderer Weise aber in den Beitrittsländern aus Mittel- und Osteuropa mit enormen Wohlstandsgewinnen verbunden ist. So ist das Pro-Kopf-Einkommen zwischen dem Jahre 1995 und dem Jahr 2006 in der EU jährlich zwischen zwei und fünf Prozent gestiegen, in Irland sogar um sieben Prozent. Auch wenn nicht bestritten wird, dass es in einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union noch Armut gibt, so halte ich es doch für völlig abwegig, dies der EU in die Schuhe zu schieben. Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang auch daran, dass die Europäische Union in der laufenden Finanzperiode von 2007 bis 2013 durchschnittlich mehr als 35 Prozent ihrer Mittel für den sozialen Zusammenhalt sowie Wachstum und Beschäftigung ausgibt, insgesamt sind dies über 300 Milliarden Euro. Davon werden allein über den Europäischen Sozialfonds Mittel in Höhe von rund 75 Milliarden Euro vergeben, die den Zweck haben, Wohlstand und Lebensstandard in den Mitgliedstaaten und Regionen zu steigern und den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhang zu fördern. Vor diesem Hintergrund ist auch die Behauptung Ihres Schreibens, das Ziel eines „schrittweisen Abbaus internationaler Handelshemmnisse“, das im Reformvertrag benannt wird, vergrößere die weltweite Armut und erweise sich „allenfalls für die europäischen Großkonzerne als profitabel“, nicht nachvollziehbar.
Ferner möchte ich Ihrem Einwand, der Vertrag von Lissabon legalisiere die Verhängung der Todesstrafe in der Europäischen Union, widersprechen. In der Charta der Grundrechte der EU, die durch den EU-Reformvertrag Rechtsverbindlichkeit erlangt, ist in Art. 2 das "Recht auf Leben" verankert, wonach gem. Art. 2 Abs. 2 "Niemand zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden darf". Dies ist eine klare und eindeutige Aussage gegen die Todesstrafe. Die EMRK ist im Jahr 1950 abgeschlossen worden, d.h. nicht lange nach dem Ende des 1. Weltkrieges. Vor diesem historischen Hintergrund sind die Formulierungen im Protokoll Nr. 6 zur Konvention zu verstehen, die tatsächlich missverständlich sein können, aber nur, wenn man gerade diesen historischen Hintergrund ausblendet und die Regelungen als vermeintliche Regelung pro Todesstrafe instrumentalisieren möchte. Wie genau das Verhältnis zwischen der Grundrechtecharta und der EMRK zu beurteilen ist, bedarf einer langen juristischen Abhandlung und wird letztendlich vom EuGH zu beurteilen sein. In jedem Fall wird die EMRK hier im Lichte der eindeutigen Charta zu lesen sein müssen. In Deutschland ist nach Art. 102 GG die Todesstrafe ohnehin abgeschafft und die Ratifikation des Vertrags von Lissabon wird hieran nichts ändern. Das BVerfG hat u. a. in seiner Maastricht- Entscheidung (zuvor Solange I und II) geurteilt, dass das Europarecht die Grundwerte unserer Verfassung nicht brechen kann und dass das BVerfG die Rechtssprechungshoheit über diesen Schutz behält. Die Abschaffung der Todesstrafe gehört selbstverständlich dazu. Zudem achtet selbstverständlich auch die EU die "Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten" (siehe u. a. Art. 6 Abs. 3 Vertrag über die EU) worunter ebenfalls die Abschaffung der Todesstrafe unbedingt zu zählen ist.
Einer besonderen Würdigung bedarf auch der Vorwurf, der Vertrag von Lissabon bewirke eine Militarisierung der Europäischen Union. Dieses Argument ist ausschließlich von den Vertretern der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag bei den Beratungen im EU-Ausschuss und bei den Debatten im Plenum des Parlamentes vorgetragen worden. Auf diese Bewertung hat der frühere Bundesumweltminister Trittin, der gewiss nicht in dem Verdacht steht, in der Frage unsensibel zu sein, im Deutschen Bundestag geantwortet, zu einem solchen Ergebnis könne nur kommen, wer den Vertrag von Lissabon nicht gelesen habe. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte ich aus dem Vertrag selbst zitieren: Art. 3 Abs. 5 des Vertrages über die Europäische Union lautet:
„In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.“
Unseres Erachtens ist es eine wichtige Errungenschaft in der der Entwicklung der EU, dass diese heute in der Lage ist, sich an militärischen Einsätzen zu beteiligen. Nur so ist sichergestellt, dass die Europäische Union mit einer Stimme auch in der Außenpolitik spricht und insbesondere auch humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie robuste Mandate bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen zu übernehmen. Solche Einsätze entsprechen nicht nur dem Gebot humanitärer Hilfe, sie sind auch ein wichtiger Beitrag zur Herstellung von Frieden und Stabilität auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen. Die Sicherheit und der Schutz der Bürger, nicht nur vor einer Aggression von außen, sondern auch vor den Gefahren terroristischer Bedrohungen im Innern, bleibt eine hohle Phrase, wenn die notwendigen Instrumente nicht zur Verfügung stehen. Es gibt Gefahren, die mit polizeilichen Mitteln abgewehrt werden können, es gibt Gefahren, die besser mit militärischen Mitteln abgewehrt werden können und es gibt Aufgaben und Gefahren, für die vor allem zivile Mittel geeignet sind. Es gehört zur historischen Wahrheit, festzustellen, dass auch in Europa, z. B. bei den Balkankriegen am Beginn der 90er Jahre, der Völkermord an den bosnischen Muslimen nur durch den Einsatz militärischer Gewalt beendet werden konnte.
Unzutreffend ist auch die Darstellung, dass es für mögliche EU-Einsätze mit militärischen Mitteln keine parlamentarische Kontrolle gebe. Begrenzt richtig ist daran lediglich, dass diese Kontrolle nicht in erster Linie auf der europäischen Ebene stattfindet, weil es für militärische Einsätze keine Gemeinschaftskompetenz gibt. Es ist vielmehr so, dass es einer so genannten „Koalition der Willigen“ bedarf, im Namen der EU militärische Einsätze durchzuführen. Die Entscheidung für eine Beteiligung an solchen Einsätzen, die immer nur im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen durchgeführt werden dürfen, liegt bei den Mitgliedstaaten, im Falle von Deutschland beim Deutschen Bundestag. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem AWACS-Urteil vom 7. Mai 2008 klargestellt, dass es ohne die vorherige Zustimmung des Deutschen Bundestages eine Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen nicht geben darf.
Sie werden verstehen, dass wir daher Ihre Auffassung, dass die vorgetragenen Kritikpunkte des Lissabonner Vertrages dem sozialen Ausgleich in einer friedlichen Welt entgegenstehen, nicht zu teilen vermögen. Wir hoffen gleichwohl, dass die von uns vorgetragenen Argumente helfen, den Vertrag von Lissabon insgesamt doch etwas positiver zu bewerten als dies in Ihrem Schreiben geschehen ist.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre
Katherina Reiche