Frage an Katharina Raue von Friedhelm B. bezüglich Familie
Auf Ihrer Internetseite schreiben Sie: "Kinder müssen in allen Bereichen als selbstverständlich akzeptiert werden, als Fahrgäste in Bussen und Bahnen ..... ebenso wie als Gäste im Restaurant - ohne schiefe Blicke vom Nebentisch, wenn es etwas lauter hergeht ..... Diese gesellschaftliche Akzeptanz ist notwendig; ich werde mich dafür einsetzen."
Das ist sicherlich richtig, aber hat die mangelnde Akzeptanz für Kinder nicht auch überwiegend ihre Ursache in der Unwillig- und Unfähigkeit der Eltern, ihrem Erziehungsauftrag nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes ordentlich nachzukommen ? Sind Kinder, die ein Restaurant mit einem Bolzplatz verwechseln nicht auch oft das Resultat einer solchen elterlichen Unfähigkeit ? Es wäre deswegen wohl auch eine staatliche Aufgabe nicht nur die Bildung im frühkindlichen, sondern auch im "frühelterlichen" Bereich zu fördern. Über die Pflicht der Eltern, ihre Kinder ordentlich zu erziehen, wacht die staatliche Gemeinschaft - so steht es in Art.6 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Ihre Meinung dazu würde mich sehr interessieren.
Sehr geehrter Herr Biegel,
ich bedanke mich für Ihre Frage, die einen Aspekt betrifft, der mir sehr am Herzen liegt. Ich hoffe, Sie werden dafür Verständnis haben, wenn ich Ihnen deshalb etwas ausführlicher antworte.
Mehr als in jedem anderen Bereich gibt es bei der Entwicklung von Kindern und damit deren Erziehung eine große Bandbreite an Verhaltensweisen. Kinder sind von Natur aus schüchtern, zurückhaltend, laut, zappelig, neugierig, bedächtig ... - eben vielfältig wie die menschliche Natur. Ihnen fehlt jedoch noch die Lernerfahrung, auf die ein Erwachsener zurückgreifen kann. Daher kann es - mehr als bei Erwachsenen - bei Kindern zu unangemessenem Benehmen kommen, dass die Erziehungsberechtigten dann zu korrigieren haben. Richtig ist zum Einen, dass Eltern heute mehr als je zuvor mit der Erziehungsaufgabe allein gelassen werden. Regulierende Strukturen wie die Großfamilie oder das enge Sozialgefüge einer dörflichen oder städtischen Gemeinschaft gibt es heute kaum noch. Ebenso richtig ist aber auch, dass viele Menschen eben durch diese freieren Lebensumstände in einem gewissen Maße verlernt haben, andere als die von ihnen für gut befundenen Handlungsweisen zu tolerieren. Ein Kind ist eben kein kleiner Erwachsener, als der es noch in der Malerei des Biedermeier-Zeitalters gerne abgebildet wurde.
Mein Wunsch ist es, Kinder im gesellschaftlichen Leben selbstverständlicher zu akzeptieren. Wenn ich als Mutter von drei Kindern mit diesen spazieren ging, als sie noch klein waren, gelegentlich auch noch mit einem ihrer Freunde, wurde ich manchmal gefragt: "Sind das alles Ihre?". Und diese Frage war nicht positiv gemeint. Ein Zeuge sagte einmal anlässlich seiner Aussage vor Gericht, man halte ihn wohl für asozial, da er drei Kinder habe. Diese grundsätzliche Haltung unseres Umfeldes möchte ich ändern und insoweit auf mehr als Toleranz, nämlich auf die geschilderte Akzeptanz, hinwirken.
Grenzen erfährt das kindliche Benehmen spätestens dort, wo geschützte Rechtsgüter anderer verletzt werden: Ehrverletzungen und Sachbeschädigungen muss man von niemandem, auch von keinem Kind hinnehmen.
Schwierig wird es dort, wo sich jemand bereits gestört fühlt, die Grenze des rechtlich Untersagten jedoch noch nicht erreicht ist. Dort würde ich mir eine Kultur des Gesprächs wünschen zwischen demjenigen, der beeinträchtigt wird und Eltern/Kindern. In dieser Zone des Ausgleichs müssen sowohl die spezifischen Belange der Kinder als auch die Interessen der anderen Berücksichtigung finden. Wer kann einen Restaurantbesuch genießen, wenn Kinder "über Tisch und Bänke gehen"? Andererseits: Welches (kleine) Kind kann wirklich lange still sitzen? Wie sollen Kinder angemessenes Verhalten lernen, wenn sie nicht üben können?
Wenn eine Situation von den Eltern nicht unter Kontrolle zu bringen ist - und damit komme ich zum zweiten Teil Ihrer Frage - kann dies mehrere Ursachen haben. Neben der Tagesform von Eltern und Kindern kann darin durchaus auch eine Äußerung dauernder Überforderung liegen. "Unwillig- und Unfähigkeit" haben Sie dies genannt. Wie bereits ausgeführt, werden Eltern heute mehr als je zuvor mit ihrem Erziehungsauftrag alleine gelassen. Dass es in diesem Bereich einen großen Bedarf gibt, zeigen Fernsehsendungen wie "Die Supernanny".
Allerdings widerstrebt es mir, in diesem Bereich mehr staatliche Intervention zu fordern. Der Staat nimmt sich unserer Kinder schon durch die schulische Erziehung über einen Großteil der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit an. Die Qualität dieser Sozialerziehung soll dabei hier nicht zur Debatte stehen, dies würde zu weit führen. Sehr sinnvoll und hilfreich sind Beratungsangebote der schulpsychologischen Dienste oder der Familienberatungsstellen, die auch so stark genutzt werden, dass die Kapazitäten nicht ausreichen.
Wenn wir uns mehr als "Gesellschaft" begreifen, als Gemeinschaft von Menschen, geschaffen durch Wohnortnähe oder die jeweilige Situation, und entsprechend mit solchen Konflikten umgehen, unsere Grenzen deutlich machen und deren Achtung einfordern, dabei aber auch die Bedürfnisse des anderen - auch eines Kindes - achten, ist mehr gewonnen und mehr zu erreichen als durch jede staatliche Einwirkung.
Mit freundlichen Grüßen,
Katharina Raue