Frage an Josip Juratovic von Tobias B. bezüglich Bildung und Erziehung
Sehr geehrter Herr Juratovic,
die Bildungsreform in BW war vielleicht nötig, brachte einige Vorteile, aber auch viele Nachteile. Ist diese jetzt bundesweit, oder nur in BW in Kraft getreten?
Wie dem auch sei, ich habe bereits einige Schüler getroffen, die unter dem neuen G8 leiden, da sie u.a. sehr viel weniger Zeit haben: sowohl zum Spielen, als auch um sich zu engagieren. Dabei ist Engagement heutzutage wichtiger denn je.
Zugegebenermaßen, das Beispiel ist etwas älter (10 Jahre), aber ich habe hier ein Zitat aus einem Interview mit Fr. Schavan:
"Focus: Welche Vorteile versprechen Sie sich?
Schavan: [...]Zweitens werden wir den individuellen Begabungen unserer Schüler gerecht. [...] Schließlich bin ich überzeugt, dass auch in 8 Jahren enie anspruchsvolle gymnasiale Bildung ohne Abstriche am Leistungsniveau absolviert werden kann."
Nach meinen Gesprächen mit den Betroffenen stellte sich heraus, dass eher das Gegenteil eingetreten war. Man kann inzwischen weniger auf einzelne Schüler eingehen, schlechte Schüler werden mitgeschleift, geübt werden muss zuhause. Besonders in höheren Schulklassen können jedoch z.B. Eltern mit Hauptschulabschluss nicht so sehr helfen und Nachhilfe kann sich auch nicht jeder leisten.
Wie würden Sie, Herr Juratovic, die Bildungsreform und das G8 bewerten und wie würden Sie das Gymnasium umgestalten, wenn Sie am Hebel säßen?
Mit freundlichen Grüßen
Tobias Braun
Sehr geehrter Herr Braun,
vielen Dank für Ihre Anfrage bezüglich der Bildungsreform in Baden-Württemberg. Vorab möchte ich aber darauf verweisen, dass Bildung und Schule überwiegend Kompetenzen der Bundesländer sind. Der Bundestag hat hier kaum Einwirkungsmöglichkeiten.
Sie fragten mich aber vor allem nach meiner persönlichen Position:
Ich kann Ihre Meinung bestätigen. Grundsätzlich bin ich zwar nicht gegen das G 8. Entscheidend ist die Umsetzung der Reform. Die derzeitige Umsetzung an unseren Schulen läuft gegen die Interessen der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern. Was viel wichtiger wäre, ist die Entrümpelung der Lehrpläne, umfassende Betreuungsangebote an den Schulen.
Weit vor dem Landtagswahlkampf im März 2006 haben auch meine Kollegen im Landtag Reinhold Gall und Ingo Rust sowie der Landtagskandidat der SPD Heilbronn dieses Thema mit Veranstaltungen in den Wahlkreisen und mit einer großen Anhörungen unter Beteiligung von Eltern und Schülern im Landtag aufgegriffen.
Mir liegt es am Herzen, dass die individuelle Förderung von leistungsschwächeren wie auch von leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern entscheidend für das gesamte Bildungswesen wird.
Ein frühes Aussondern oder die Zuweisung zu bestimmten Schultypen oder zwischen den Schultypen nach einem nicht aussagekräftigen Notenschlüssel stehen dieser Philosophie ebenso entgegen wie ein veralteter Begabungsbegriff. Die Landesregierung will entgegen aller bildungswissenschaftlichen Erkenntnisse eine noch stärkere Bildungsselektion von Kindern und Jugendlichen. Das ist ein Irrweg.
Am 13.1.2007 hat der SPD Landesvorstand und die SPD-Landtagsfraktion in Baden-Württemberg mit meiner Zustimmung folgende Forderung aufgestellt:
Zentrale bildungspolitische Forderungen
1. Entwicklung eines umfassenden Bildungskonzeptes für alle Tageseinrichtungen und für alle Kinder gemeinsam bis zum Alter von 6 Jahren, professionelle Sprachförderung in den Einrichtungen und umfassende Fort- und Weiterbildungsoffensive für ErzieherInnen. Alle Kinder erhalten ab 2010 vom vollendeten ersten Lebensjahr an einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Beginnend mit dem letzten Jahr wollen wir schrittweise die gesamte Kita-Zeit beitragsfrei stellen.
2. Individuelle Förderung – Orientierung an individuellen Bildungsverläufen (das System kindkonform machen, nicht das Kind systemkonform), z.B.: Integration der Ressourcen für Hochbegabtenförderung und Sonderschule in das Regelschulsystem Integration der BVJ-Ressourcen mit dem Ziel, die „Ausbildungsreife“ im Regelschulsystem zu erreichen Verzicht auf Sitzenbleiben und an Stelle von Ziffernnoten individuelle Lernstandsberichte, die neben der Fachkompetenz soziale, methodische und personale Kompetenzen beinhalten Bereitstellung von genügend personellen und materiellen Ressourcen vor allem im Vorschul-, Grundschul- und Ganztagsschul-Bereich.
3. Flexible Schulstruktur unter der Maßgabe des längeren gemeinsamen Lernens Öffnung, Durchlässigkeit und Kooperation zwischen allen Schularten – einschließlich der Zusammenlegung von Hauptschulzügen und Realschulzügen zu einem neuen Schultyp (Gemeinschaftsschule) - nicht nur als Reaktion auf zurückgehende Schülerzahlen, sondern als Einstieg in einen Prozess, der auf eine 9-/10-jährige gemeinsame Schulzeit abzielt; ?Verlängerung der Grundschulzeit zunächst auf sechs Jahre, darauf aufbauend eine vierjährige Gemeinschaftsschule, in der der mittlere Bildungsabschluss, aber auch der Hauptschulabschluss erreicht werden kann. Parallel hierzu: 6-jähriges Gymnasium, das mit der allgemeinen Hochschulreife abschließt; Verankerung von gebundenen Ganztagsschulen in allen Schularten in der Praxis und im Schulgesetz, professionelle Ganztagsschulentwicklung und Ganztagsbildung statt einer „Ganztagsschule light“ auf ehrenamtlicher Basis;
4. Gesetzliche Voraussetzungen schaffen für eine optimale Kooperation von Schule und Jugendhilfe bzw. außerschulische Jugendbildung
5. Erhaltung des Grundsatzes der dualen Ausbildung. Gleichzeitig zusätzliche vollzeitschulische Ausbildungsgänge aufbauen und vorhandene vollzeitschulische Ausbildungselemente stärker auf eine berufliche Ausbildung anrechnen lassen. Im dualen System, im schulischen System und in der Kombination mit Verbünden von betrieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsformen ist für ein ausreichendes und qualitativ hochwertiges Ausbildungsangebot für jeden Jugendlichen Sorge zu tragen. Für „Altbewerber“ auf dem Ausbildungsmarkt müssen Sonderprogramme auf den Weg gebracht werden.
6. Entwicklung eines ganzheitlichen Erwachsenenbildungskonzepts mit dem Ziel, den Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen für Menschen aller Milieus und Altersstufen zu gewährleisten, in einem Weiterbildungsgesetz eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, die den Trägern u.a. finanzielle Planungssicherheit ermöglicht und Arbeitnehmern ein Recht auf Bildungsurlaub einräumt.
Als Mitglied im SPD-Landesvorstand kann ich diese Forderungen unterstreichen.
Für Ihre Einschätzungen und Ihre Rückmeldung zum aktuellen Schul- und Bildungspolitik möchte ich mich abschließend bei Ihnen bedanken. Es gibt noch einiges zu tun, um faire Chancen zu schaffen.
Mit freundlichen Grüßen
Josip Juratovic