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Jens Kerstan
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Frage von Wolf Achim W. •

Frage an Jens Kerstan von Wolf Achim W. bezüglich Bildung und Erziehung

Sehr geehrter Herr Kerstan,

Sie treffen die Aussage, "es ist bekannt, dass das längere gemeinsame Lernen bessere Entwicklungsmöglichkeiten für die Kinder schafft".

Leider ist mir das nicht bekannt, bzw. suche ich seit Mai 2008 nach einer seriösen Studie, die nachweist, dass die Einführung der Primarschule bis Klasse sechs besser Entwicklungsmöglichkeiten für die Kinder schafft. Mögen Sie mir auf die Sprünge helfen?

Nachfragen bei der Schulbehörde Hamburg haben bislang leider nichts zu Tage befördert, nun hoffe ich auf Sie.

Mit freundlichem Gruß
MLC

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Wiegand,

vielen Dank für Ihre Frage.

Die Aussage, dass längeres gemeinsames Lernen bessere Entwicklungsmöglichkeiten schafft, wird gestützt durch die ELEMENT-Studie (1), insbesondere aber durch die Re-Analyse dieser Studie durch Jürgen Baumert (2).
Beide Untersuchungen vergleichen Lernstände und Lernentwicklungen von Schülerinnen und Schülern in den Klassen 5 und 6 in Berlin, die entweder die sechsjährige Grundschule oder das mit Klasse 5 einsetzende grundständige Gymnasium besuchen.

Ergebnis: Obwohl die Grundschulen im Durchschnitt eine deutlich leistungsschwächere und gemischte Schülerschaft haben, ist der durchschnittliche Lernzuwachs zwischen dem Ende der 4. Klasse und dem Ende der 6. Klasse ähnlich hoch wie der Lernzuwachs an den Gymnasien, deren Schülerschaft nach Leistung ausgewählt und daher besonders leistungsstark ist. Mit Blick auf das Leseverständnis zeigt sich sogar, dass der Lernzuwachs in der Grundschule den am Gymnasium übertrifft. Bei der Mathematikleistung liegt das Gymnasium vorne.

Es ist eindeutig belegt, dass die Grundschule Schülerinnen und Schülern mit einer schlechten Lernausgangslage hohe Lernzuwächse ermöglicht. Aber auch Schülerinnen und Schüler im oberen Leistungsspektrum werden an Grundschulen sehr gut gefördert. Insbesondere konnte die Re-Analyse zeigen, dass leistungsstarke Schülerinnen und Schüler, die in der Grundschule verbleiben und ähnliche Merkmale der sozialen Herkunft aufweisen wie diejenigen, die in Klasse 5 in ein Gymnasium wechseln, sich im Lesen und in Mathematik völlig parallel zu den Gymnasiasten entwickeln. Demnach gilt, so Baumert: "In keinem Leistungsbereich sind Förderwirkungen des grundständigen Gymnasiums nachzuweisen."(3)

Zum Hintergrund: Die sechsjährige Grundschule besuchen in Berlin in den Klassen 5 und 6 etwa 93% der Kinder eines Altersjahrgangs. Die restlichen 7% gehen auf die insgesamt 31 grundständigen Gymnasien. Dabei handelt es sich um eine Minderheit von leistungsstarken Schülerinnen und Schülern aus besonders bildungsorientierten Elternhäusern. Am Ende der 4. Klasse sind diese Kinder in Lesen und Mathematik dem Durchschnitt aller Kinder, die weiter die Grundschule besuchen, um über zwei Jahre in ihrer Lernentwicklung voraus.

Daraus ergibt sich folgendes Fazit: Die sechsjährige Grundschule in Berlin erbringt eine respektable Förderung im unteren Leistungsbereich und gleichzeitig gelingt ihr eine Förderung im oberen Leistungsbereich, die von den hochselektiven grundständigen Gymnasien nicht übertroffen wird. Hinzu kommen an den Grundschulen Effekte des sozialen und demokratischen Lernens, die nur in gemischten Lerngruppen entstehen.

Mit besten Grüßen,
Jens Kerstan

Quellenangaben:
(1) Lehmann, R./Lenkeit, J. (2008): ELEMENT. Erhebung zum Lese- und Mathematikverständnis. Entwicklungen in den Jahrgangsstufen 4 bis 6 in Berlin. Abschlussbericht über die Untersuchungen 2003, 2004 und 2005 an Berliner Grundschulen und Gymnasien. Berlin: Humboldt-Universität
(2) Baumert, J./Becker, M./Neumann, M./Nikolova, R. (2009): Frühübergang in ein grundständiges Gymnasium - Übergang in ein privilegiertes Entwicklungsmilieu? Ein Vergleich von Regressionsanalyse und Propensity Score Matching. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 12. Jg., Heft 2
(3) Baumert, J./Becker, M./Neumann, M./Nikolova, R. (2009), S. 29.