Frage an Inge Gräßle von Martin S. bezüglich Finanzen
Sehr geehrte Frau Dr. Grässle,
bei den Budgetberatungen zum EU-Haushalt 2013 haben Kommission und Europäisches Parlament geltend gemacht, dass auf Grund der Tatsache, dass die jährlich vom Europäischen Rat vorgesehenen Kassenmittel geringer als die für die jeweiligen Haushaltsjahre gebilligten Verpflichtungsermächtigungen seien mit der Folge, dass jedes Jahr aufs Neue ein strukturelles Haushaltsdefizit entstünde. Parlament und Kommission haben mit diesem Hinweis ihre Forderung nach Aufstockung des Budgets begründet und erreicht, dass die Kommission nicht verbrauchte Mittel der diversen Fonds nicht an die Mitgliedstaaten zurückgeben, sondern behalten darf.
Wer überprüft dann aber, für welche Zwecke die Kommission diese Mittel ausgibt?
Können Sie nachvollziehen, dass ich mich als Unionsbürger und Steuerzahler von Kommission und Parlament getäuscht fühle, wenn ich im April 2013 eine dpa-Meldung lese, wonach die Mitgliedstaaten seit Jahren weniger als 50 % der bereitgestellten Fondsmittel abrufen, also das anlässlich der Budgetberatungen 2013 geltend gemachte Argument der Unterfinanzierung bisher nicht bestanden hat und angesichts der knappen Haushaltslage der meisten der Mitgliedstaaten auch in überschaubarer Zukunft nicht bestehen wird?
Mit freundlichen Grüßen
Martin Schlotterbeck
Sehr geehrter Herr Schlotterbeck,
besten Dank für Ihre Frage zu den Problemen um die aktuelle Unterfinanzierung der EU, aus der die aktuelle Krise mancher Mitgliedstaaten deutlich hervorgeht.
Bitte erlauben Sie, dass ich auf einige Besonderheiten des EU-Haushalts hinweise:
1. Der EU-Haushalt wird sowohl mittelfristig aufgestellt - also einmal alle 7 Jahre (der sog. mehrjährige Finanzrahmen MFR) - als auch jährlich. Der "7-Jahresplan" legt dabei bereits fest, in welchen Größenordnungen sich die jeweils jährlichen Haushaltspläne bewegen dürfen. Die jährliche Haushaltsplanaufstellung ist damit das "Feintuning" der 7-Jahresplanung. Da die Mitgliedstaaten stets einen eigenen, nationalen Finanzanteil (Kofinanzierung) für die EU-Mittel erbringen müssen, flossen bislang nie alle Mittel aus dem EU-Haushalt ab. Das wurde bereits im Ansatz des MFR berücksichtigt. 50 Mrd. Euro mehr Ausgaben (Verpflichtungen) durften eingegangen werden, als tatsächlich im Budget als Zahlungen angesetzt werden. Das ist jetzt, im letzten Jahr des aktuellen MFR (2007-2013) ein Problem.
2. Die EU-Ausgabenprogramme, also die Subventionsprogramme, machen fast den gesamten EU-Haushalt aus: Bis zu drei Jahre (die seit 2004 neuen Mitgliedstaaten sowie die Krisenländer Griechenland und Portugal) haben die EU-Staaten Zeit, die jeweiligen Mittel eines Jahreshaushalts auszugeben. Folge: Die EU schiebt eine "Bugwelle" von Mitteln aus den jeweiligen und vorangegangen Jahren vor sich her, die die Mitgliedstaaten noch nicht ausgegeben haben. Ende 2012 waren es 217 Mrd. Euro, davon 2/3 in den Strukturfonds. Auf diese Mittel gibt es einen Rechtsanspruch der jeweiligen Staaten.
3. Eine Planung der tatsächlich gebrauchten Mittel im jährlichen EU-Haushalt ist von vielem abhängig, auf das die EU-Kommission selbst nur teilweise Einfluß nehmen kann, weil die Verantwortung für den Mittelabfluß in den jeweiligen Mitgliedstaaten liegt. Sie melden ihren geplanten Mittelabfluß für das folgende Jahr nach Brüssel - und ob es geklappt hat, sieht man erst 1,5 Jahre später. Wenn es nicht "geklappt" hat, muss nachgesteuert werden. Das von Ihnen kritisierte Verfahren ist also ein Nachsteuern, das der Haushaltstechnik der EU geschuldet ist.
4. Die EU hat auf die Krise mancher Mitgliedstaaten reagiert und manche Länder - etwa Griechenland - von nationaler Kofinanzierung fast völlig befreit. Die EU kommt dort also für die gesamten Kosten eines Projekts aus. Das führt dazu, dass im aktuellen mehrjährigen Finanzrahmen mehr Geld abgerufen wurde als vorher. Das Delta zwischen Verpflichtungen und Zahlungen im MFR, das ich unter Punkt 1 beschrieben habe, tut sich in 2013 auf - weil in diesem Haushaltsjahr, dem letzten des aktuellen MFR - eben auch die Bugwelle, die ich unter Punkt 2 beschrieben habe, teilweise von den Mitgliedstaaten abgebaut wurde - Zeitdruck wirkt offensichtlich. Die 217 Mrd. Euro sind Gelder für die Mitgliedstaaten: Polen 25 Mrd, Italien 20, Spanien 18, Rumänien 14, Tschechien 12, Deutschland 10, Griechenland 9, Portugal 7... Diese Gelder sind an die im EU-Recht vorgeschriebenen Zwecke in den jeweiligen Fonds gebunden und müssen sowohl von Mitgliedstaaten, Kommission, Rechnungshof und Parlament kontrolliert werden.
5. Zur Deckung der "Geldanforderungen" an den EU-Haushalt aus den Mitgliedstaaten würden am Jahresende 19 Mrd. Euro gebraucht. Im aktuellen mehrjährigen Finanzrahmen MFR sind aber "nur" noch 11 Mrd. Euro vorhanden. Das bedeutet, dass 8 Mrd. Euro offen bleiben. Wie Sie sicher wissen, wäre der jetzige MFR nur durch einstimmigen Beschluß der 27 Staats- und Regierungschefs und der 27 nationalen Parlamente zu verändern - ein Aufwand, der kaum zielführend ist. Über diese Summe aus dem alten MFR muss ebenfalls gesprochen, das Problem gelöst werden.
Sie schreiben, Sie fühlen sich getäuscht, weil auf der einen Seite die Mittel nicht abgerufen, auf der anderen Seite es Unterfinanzierung gibt. Umgekehrt ist es richtig: Weil die Mittel (Verpflichtungen) jetzt abgerufen wurden und werden (teilweise durch alleinige Finanzierung durch den EU-Haushalt), können sie abfließen - und damit werden Kassenmittel gebraucht, um zu zahlen. Wenn das Geld jetzt - absprachewidrig - nicht käme, könnten die Mitgliedstaaten Rechnungen für Firmen, Handwerker, Projekte nicht begleichen. Ich bin dafür, die Verpflichtungen zu erfüllen, die alle zusammen eingegangen sind. Wenn wir uns nicht mehr auf Recht und Gesetz in der EU verlassen können, dann entzieht sich die EU selbst ihrer Daseinsberechtigung.
Ich sehe auf der anderen Seite auch das Problem, dass das Geld für die EU ja zuerst aus den Krisenländern kommen muss, damit es dort wieder investiert werden kann. Das ist ein wichtiges Problem, das mir auch große Sorgen macht.
Sie wissen, dass das Parlament gerade mit dem Rat über den neuen mehrjährigen Finanzrahmen 2014 bis 2020 verhandelt. Ich gehe davon aus, dass diese Frage dort gelöst werden kann und gelöst werden wird. Ich betrachte dies eher als haushaltstechnische, denn als politische Frage und kann nur davor warnen, diese technische Frage zu einer politischen zu machen.
Mit den besten Grüßen nach Esslingen,
Ihre Inge Gräßle