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Herbert Schui
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Frage von Benjamin R. •

Frage an Herbert Schui von Benjamin R. bezüglich Wirtschaft

Sehr geehrter Herr Schui,

Sie schreiben (bei abgeordnetenwatch.de): "Die Mittel für Schulen, Berufsschulen, Fachschulen und Universitäten sind bei weitem unzureichend." Könnten sie mir erklären, wo Sie Kürzungen veranlassen würden, bzw. wie Sie nötige Mittel, in einer Zeit supranationaler Makroökonmie, erwirtschaften würden?
Natürlich, das hier angesprochene Feld ist riesig. Doch wenn gegenwärtig soziale Kürzungen aus Sachzwängen heraus legitimiert werden, frage ich Sie, nicht nach ihrer Philosophie, die scheint mir klar, sondern nach ihren pragmatischen Lösungsvorschlägen zur Revitalisierung der kulturellen Errungenschaften sozialer Marktwirtschaft, nicht aus sozialer, sondern aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht.
Herzlichst
Benjamin Richard

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DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Richard,

auch wenn es nicht ganz der Kern Ihrer Frage ist, Ihre Wendung „Revitalisierung der kulturellen Errungenschaften sozialer Marktwirtschaft“ sollte einleitend kommentiert werden. Mein Ziel jedenfalls ist der Sozialstaat, so wie ihn das Grundgesetz in den Artikeln 20 (1) und 28 (1) skizziert, keineswegs aber die Soziale Marktwirtschaft. Diese kann für Die Linke nicht das Ziel sein. Die Gründe für diese Ablehnung werden beim Lesen der Arbeiten besonders von Eucken und Müller-Armack sogleich klar.

Seine Anziehungskraft verdankt der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ mehr den unwillkürlichen Gedankeneinfällen beim Hören von Wörtern als der Kenntnis der Arbeiten von Eucken, Röpke, Müller-Armack, Lippmann oder Erhard. Zweck dieser Wortfolge war, positive Assoziationen zu provozieren: Sie sollten helfen, die antikapitalistische Grundstimmung der Nachkriegszeit zu überwinden. Es ging darum, das „emotionsbelastete“ Wort „Kapitalismus“ zu vermeiden und „durch den neutraleren Begriff (...) der Marktwirtschaft zu ersetzen.“ Dass der Begriff des Kapitalismus „im Vokabular neuerdings bei uns seine Auferstehung feiert (...), entspringt der Aggressionsabsicht, die heutige Wirtschaftsordnung zu diffamieren.“ (Alfred Müller-Armack: Die wissenschaftlichen Ursprünge der Sozialen Marktwirtschaft (1973). In: derselbe: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, 2. erweiterte Auflage Bern und Stuttgart 1981, S. 181 f.)

Der Sozialstaat setzt darauf, durch eine Verteilungspolitik zu Lasten des Gewinns den Lebensstandard der großen Mehrheit der Bevölkerung zu verbessern. Dies bedeutet mehr Lohn, Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, mehr soziale Sicherheit, mehr öffentliche Dienste. Diese Verteilung hat gleichzeitig mehr gesamtwirtschaftliche Nachfrage zur Folge: Denn aus einem Euro Lohn- oder Sozialeinkommen werden mehr Cent ausgegeben als aus einem Euro Gewinneinkommen. Das lässt sich statistisch leicht belegen. Bei dieser größeren Nachfrage fällt die Produktion höher aus, als dies ohne Verteilungspolitik der Fall wäre. Dieses Mehr an Produktion wiederum ist die wirtschaftliche Basis des Sozialstaates. Allerdings: Die Kapitalrentabilität ist bei dieser Verteilungspolitik niedriger.

Die Soziale Marktwirtschaft dagegen lässt das nicht gelten: Eucken hält der Einkommenspolitik Englands oder der USA in der Nachkriegszeit vor, dass die Vollbeschäftigungspolitik dort mit dem Instrument der Steuerpolitik arbeite, um „zu starkes Sparen zu verhindern. Deshalb sehen sie in hohen Einkommen, von denen erfahrungsgemäß eine großer Teil gespart wird, eine Gefahr.“ Dies lehnt Eucken ab. Er betont, dass Verteilungspolitik, die sich an der Möglichkeit des Übersparens (und damit an unzureichendem Massenkonsum) orientiert, die Investitionen behindert. (Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1975, S. 301) Soziale Marktwirtschaft dagegen will einzig das „Prinzip der Freiheit mit dem des sozialen Ausgleichs verbinden.“ (Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, Handbuch der Sozialwissenschaften, HdSW, 9. Band, Tübingen-Göttingen 1956, S. 391) Umverteilung durch den Staat demnach allenfalls als Befriedung, nicht aber, um in einem makoökonomischen Kontext die wirtschaftlichen Möglichkeiten für einen besseren Lebensstandard voll auszuschöpfen. Statt Emanzipation also gesellschaftliche Ruhigstellung! Ziel ist nicht Nutzung des potentiellen Reichtums, des jeweils erreichten Standes der Arbeitsproduktivität, sondern Befriedung entmündigende Fürsorge. Eben das ist der entscheidende Unterschied zwischen den Konzepten des Sozialstaates und der Sozialen Marktwirtschaft.

Das eigentliche Dilemma besteht für Eucken (Grundsätze … S. 274f) in der Schwäche des Staates, nämlich darin, dass „der weitaus wichtigste Wesenszug staatlicher Entwicklung im 20.Jahrhundert (...) die Zunahme im Umfange der Staatstätigkeit und die gleichzeitige Abnahme der staatlichen Autorität“ ist. Noch klarer formuliert er sein Anliegen 1932: "Wenn der Staat aber erkennt, wie große Gefahren auch ihm aus der Verflechtung mit der Wirtschaft entstanden sind, wenn er die Kraft findet, sich vom Einfluß der Massen frei zu machen (...), - dann ist auch in den altkapitalistischen Ländern einer kräftigen weiteren Entfaltung des Kapitalismus in neuartiger Gestalt die Bahn geebnet." (Eucken, Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 36, 1932, S. 318) Dieses Zitat ist unverändert zeitgemäß; weiter gekommen bei der Bewältigung von Krisen ist die ökonomische Rechte offenbar nicht.

Nach diesen Vorbemerkungen dürfte klar sein, dass ich von einer „Revitalisierung der kulturellen Errungenschaften sozialer Marktwirtschaft“, wie Sie es nennen, nichts, aber auch gar nichts halte. Denn die Soziale Marktwirtschaft ist keine kulturelle Errungenschaft, sondern eine kulturelle Fehlleistung: Sie zielt nicht ab auf die Nutzung dessen, was der Stand der Arbeitsproduktivität ermöglicht, sondern auf vollständige Konkurrenz auf allen Märkten, den Arbeitsmarkt ausdrücklich eingeschlossen (das lässt wirksame Gewerkschaften nicht zu), und auf Ruhigstellung durch ein wenig Sozialpolitik.

Nun will ich gerne einräumen, dass überaus viele Leute dem suggestiven Begriff „Sozialen Marktwirtschaft“ auf den Leim gegangen sind und eigentlich Sozialstaat meinen, wenn sie Sozialen Marktwirtschaft sagen. Das ist verständlich. Denn wer hat schon die Arbeiten von Eucken oder Müller-Armack gelesen?

Deswegen also zurück zur Verteilungspolitik des Sozialstaates – das ist die politische Forderung. Die Steuerquote liegt in Deutschland gegenwärtig bei rund 20 Prozent. Sie müsste Zug um Zug auf 25 Prozent gesteigert werden. Das bedeutet bei einem Bruttoinlandsprodukt von 2.307 Milliarden Euro im Jahr 2006 Mehreinnahmen des Staates von rund 115 Milliarden Euro. Zu belasten ist, dies ist zu betonen, das Vermögens- und Unternehmenseinkommen. Aus diesen Einnahmen ist – neben Anderem – das Bildungswesen zu finanzieren. Sicherlich wird die Kapitalrentabilität dann niedriger ausfallen, als dies ohne diese Erhöhung der Steuerquote der Fall ist. Was sind die Folgen?

In den nordischen Ländern ist die Staatsquote bedeutend höher als in Deutschland, und diese Länder haben leistungsfähigere Sozialsysteme und weniger Arbeitslosigkeit. Und diese Länder sind wesentlich mehr als Deutschland dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Offenbar geht es also. Deutschland hat wenigstens ebenso viel Bewegungsmöglichkeit. Seine Exportprodukte sind international marktgängig – und das nicht einfach, weil sie billig wären, sondern weil es ein Kennzeichen der hiesigen Industrie ist, produktionstechnische Lösungen für Unternehmen zu finden: Das Rückgrat der Exporte sind Investitionsgüter.

Der Spielraum für Verteilungspolitik ist zu nutzen. Über kurz oder lang aber kann sich das bemerkbar machen, was Sie Sachzwänge aus der Globalisierung nennen. Dann stehen Deutschland, die EU, vor der Wahl: Sie halten die Arbeitskosten (Löhne, Sozialabgaben) und die Steuern niedrig, weil dies in anderen Industrieländern der Fall ist, und verzichten damit darauf, den Lebensstandard der großen Mehrheit der Bevölkerung an das hohe Niveau der Produktivität der Arbeit anzupassen. Das aber wäre doch absurd! Die Alternative heißt, in der EU Löhne und Sozialstaatsleistungen anzugleichen und zu steigern und allfällige, bedrohliche Auslandskonkurrenz durch Außenzölle zu neutralisieren. Sicherlich wäre es dann vorbei mit der jetzigen Globalisierung – nicht aber mit der internationalen Arbeitsteilung und dem Außenhandel. Nur dass dann beim Außenhandel nicht diejenigen Länder Wettbewerbsvorteile hätten, die ihre Produktivität nicht für die Besserung der Lebensverhältnisse nutzen.

Sie sehen: Wenn das Ziel des Wirtschaftens eine möglichst hohe Bedarfsdeckung ist – darauf sollten sich alle verständigen Menschen einigen können – dann muss ein Arrangement her, auch im Bereich der internationalen Wirtschaft, das diesem Ziel nutzt. Oder: Die Organisation der Wirtschaft, national und international, hat dem Ziel der Steigerung der Wohlfahrt zu dienen. Wenn Sie mit Ihrer Befürchtung Recht hätten, dass angesichts der Globalisierung bei der Erledigung öffentlicher Aufgaben, hier der Finanzierung der Bildungseinrichtungen, zurückgesteckt werden muss, dann ist doch damit eines klar: Der uneingeschränkte freie internationale Waren- und Kapitalverkehr fördert den Wohlstand der Völkerschaften nicht. Zu Zeiten von Adam Smith oder später David Ricardo war das aus britischer Sicht anders, oder aus der Sicht derer, die zu dieser Zeit in Großbritannien das Sagen hatten. Aber diese Zeit ist nun vergangen. In den wirtschaftlich entwickelten Ländern ist die Industrialisierung abgeschlossen. Das Gros der Bevölkerung muss nicht mehr bei schmaler Kost gehalten werden, damit die Industrialisierung zügig vorangehen kann. Eine niedrige Konsumgüternachfrage wird nun nicht mehr automatisch ausgeglichen durch eine höhere Investitionsgüternachfrage. Soviel lohnende Investitionsprojekte lassen sich nicht mehr ausfindig machen. Also muss der Teil der Produktion, der nicht investiert werden kann, konsumiert werden – individuell oder als kollektiver, staatlicher Konsum. Das System der Produktion, die Ordnung der Wirtschaft, muss dieser neuen Lage angepasst werden.