Frage an Herbert Schui von Christiane T. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Guten Tag Herr Prof. Dr. Schui,
ich denke darüber nach, bei der nächsten Bundestagswahl der Linken meine Stimme zu geben.
Was mich davon abhält, ist die Unklarheit, wie die Linke zu ihrer Vergangenheit in der DDR in der Vorläuferorganisation SED steht.
Ich suche nach einem Dokument, in dem sich die Linke eindeutig und überzeugend von jeglicher Bespitzelung und Verfolgung Andersdenkender distanziert, wie sie ja von der SED betrieben wurde.
Ich brauche Klarheit darüber, ob die Linke wirklich eine demokratische Partei ist und ob sie sich kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt hat.
Könnten Sie mir bitte an dieser Stelle weiterhelfen?
Auf der Homepage der Linken konnte ich leider nichts dazu finden.
Vielen Dank für Ihre Mühe und herzliche Grüße aus Bonn,
Christiane Theißen-Müller
Sehr geehrte Frau Theißen-Müller,
sicherlich haben unsere politischen Gegner ein verständliches Interesse daran, dass wir, Die Linke, in der Öffentlichkeit als Fortführung der SED verstanden werden. So aber ist die Geschichte nicht gelaufen.
Den Startschuss für die Gründung der Linken hat Kanzler Schröder mit seiner Agenda 2010 gegeben: Ziel dieser Agenda war, dem Sozialstaat des Grundgesetzes ein Ende zu setzen. Ich erinnere an Artikel 20 (1) des Grundgesetzes: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Und ich erinnere auch daran, dass dieser Artikel ein sogenannter ewiger Artikel unserer Verfassung ist. Der Kern der Agenda besteht bekanntlich darin, die Arbeitslosen selbst für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich zu machen. Es ist dann nicht mehr Sache des Staates, mit einer gesamtwirtschaftlichen, einer makroökonomisch ausgerichteten Politik Vollbeschäftigung herzustellen. Vielmehr ist es im Sinne der Agenda Aufgabe des Staates, die Arbeitslosen im Rahmen von Hartz IV auf schmale Rationen zu setzen. Dies, so die Vorstellung der Agenda weiter, veranlasst sie, sich endlich um Arbeit zu bemühen. Wer wirklich arbeiten will, so die Devise, der findet auch eine Arbeit. Statt Nachfragepolitik – auch durch eine andere Verteilung zugunsten der niedrigen Einkommen – eine, wenngleich milde Erziehungsdiktatur, die den abhängig Beschäftigten wieder Arbeitsmoral beibringt. (Ausführlicher dazu: H. Schui, gerechtere Verteilung wagen, Hamburg 2009, hier besonders der Essay ‚Der Mythos der Eigenverantwortung‘)
Ich war über Jahrzehnte Mitglied der SPD. Bis Schröder mit seiner Agenda herauskam, war ich davon überzeugt, dass die SPD mehr als andere Parteien dafür eintritt, aus der steigenden Produktivität der Arbeit mehr Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung zu machen. Und diese Mehrheit, das muss nicht näher erklärt werden, sind diejenigen, die als abhängig Beschäftige arbeiten, als Rentner gearbeitet haben oder, noch in der Ausbildung, arbeiten werden. Es ist absurd, dass in den letzten Jahrzehnten die Produktivität der Arbeit anhaltend gestiegen ist, der Lebensstandard großer Teile der Bevölkerung sich aber ständig verschlechtert hat. Eine neue, eine linke Partei ist notwendig, um diesen Widersinn zu beenden.
Das war der materielle Ausgangspunkt für die Gründung Der Linken. Um an einige Fakten zu erinnern: Im März 2004 haben wir, Gewerkschafter und SPD-Mitglieder, zur Gründung der Initiative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (ASG) aufgerufen, aus der dann schließlich, nach dem Zusammenschluss mit einer ähnlichen Initiative (Wahlalternative 2006), die WASG hervorgegangen ist. Diese Partei hatte innerhalb kurzer Zeit mehr als zehntausend Mitglieder.
Im Mai 2005 verlor die SPD auch die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, die WASG kam auf 2,2 Prozent, die PDS auf 0,9. Schröder kündigte am selben Abend vorgezogene Neuwahlen zum Bundestag an. Nach allgemeiner Einschätzung wollte er damit eine Richtungsdebatte in der SPD und das Entstehen einer neuen Partei links von SPD und Grünen verhindern.
Wir hatten die Wahl: Entweder treten WASG und PDS konkurrierend zur Bundestagswahl an. Oder sie treten gemeinsam an. Wir haben uns für den gemeinsamen Wahlantritt entschieden. (Die wesentlichen Gründe dafür finden Sie in einem Beitrag, den ich im Mai 2006 für die Financial Times Deutschland geschrieben habe. http://www.herbert-schui.de/veroeffentlichungen/zeitungsartikel/zeitungsartikel/archive/2006/may/article/lieber-ein-klares-profil-als-regierungsaemter.html?tx_ttnews%5Bday%5D=18&cHash=b9f82c41dc.) Durch dieses Zusammengehen haben wir einen Wahlsieg von Union und FDP verhindert. SPD und Grüne waren aus eigener Kraft dazu nicht mehr in der Lage.
2007 wurde die Partei Die Linke gegründet. Politisch handelt es sich um eine Neugründung. Rechtlich war es eine Fusion von WASG und Linkspartei.PDS. Dieser Partei haben sich seitdem tausende neuer Mitglieder angeschlossen.
Die Linke hat von Anfang an klargemacht, dass sie sich als Verteidigerin der Demokratie versteht. Auf dem Gründungsparteitag erklärte Oskar Lafontaine: „Als ehemaliger Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands stehe ich heute vor euch und sage: Die Linke steht in der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung! Sie steht in der Tradition derer, die unter den Sozialistengesetzen Bismarcks verfolgt waren, und sie steht in der Tradition derer, die in den Konzentrationslagern Hitlers umgekommen sind. Und sie fühlt sich dem Erbe derer verpflichtet, die als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der DDR eingesperrt waren, ebenso wie den Kommunistinnen und Kommunisten, die in der Bundesrepublik Deutschland eingesperrt und verfolgt wurden. Beides gehört zusammen, und beides muss gesagt werden.“ ( http://www.die-linke.de/index.php?id=266 )
Im programmatischen Gründungsdokument der Linken steht: „Wir haben aus der Geschichte gelernt: Respekt vor den Ansichten Andersdenkender ist Voraussetzung von Befreiung. Wir lehnen jede Form von Diktatur ab und verurteilen den Stalinismus als verbrecherischen Missbrauch des Sozialismus. Freiheit und Gleichheit, Sozialismus und Demokratie, Menschenrechte und Gerechtigkeit sind für uns unteilbar.“ ( http://www.die-linke.de/fileadmin/download/dokumente/programmatisch_eckpunkte_broschuere.pdf Seite 3 unten)
Seit ihrer Gründung hat Die Linke zuverlässig gegen jede Beschränkung der Freiheit und gegen jede Menschenrechtsverletzungen Stellung bezogen. Sie setzt sich kompromisslos ein gegen den Ausbau des Überwachungsstaates (Beispiel Online-Durchsuchung), gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr und für den Schutz der Menschenwürde von sozial Benachteiligten, so den Hartz-IV-Beziehern. Die Linke will Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen – nicht zuletzt in der Wirtschaft.
Die Linke ist also eine Neugründung aus WASG, Linkspartei. PDS und von Neumitgliedern. Ihr gemeinsames Ziel war und ist, dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung Geltung zu verschaffen. Bedenken Sie die folgenden Beispiele: Die Meinungsumfragen zeigen eindeutig, die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Rente ab 67 ab, sie will keine deutschen Soldaten in Afghanistan, sie ist gegen die Privatisierung der Bahn. Die Mehrheiten im Parlament dagegen sind für die Rente mit 67, für eine deutsche Beteiligung am Afghanistan-Krieg, für die Privatisierung der Bahn. Sind wir wegen dieser Haltung undemokratisch?
Sicherlich ist auch die PDS anzusprechen. Aber nach Allem sollte eines klar sein: Die Linke ist nicht die Weiterführung der PDS und erst recht nicht der SED. Vielmehr ist die PDS eine der Quellparteien der Linken. Die PDS war 2005 eine völlig andere Partei als die SED 1989. Die PDS war keine Staatspartei, sondern eine linke, demokratische Partei, der auf Bundesebene die Rolle der Opposition zukam. Sich zu ihr zu bekennen brachte keine Privilegien, sondern eher Unannehmlichkeiten mit sich. Der Wandel ist auch an der Mitgliedschaft abzulesen: Die überwältigende Mehrheit der SED-Mitglieder wurde nicht PDS-Mitglied. Auch einige DDR-Oppositionelle schlossen sich der PDS an, aus Protest gegen die Arroganz der westdeutschen Parteien gegenüber dem Osten Deutschlands. Schließlich hatte sich die PDS auch programmatisch gewandelt und sich mit der SED-Vergangenheit auseinandergesetzt. Einige Dokumente können Sie hier nachlesen:
http://www.die-linke.de/fileadmin/download/geschichte/090312_handreichung_geschichte.pdf
Ohne Zweifel ist es reizvoll, den Spuren der SED nachzugehen und deren Mitglieder bei der Linken zu suchen – und zu fragen, welche politische Haltung diese jetzt einnehmen. Für eine Antwort ist hilfreich, wenn Sie sich eingehender über die vereinzelte Kritik aus ostdeutschen Landesverbänden am Parteivorsitzenden Lafontaine informieren. Aber wenn Sie diese Frage aufgreifen, vergessen Sie nicht zu untersuchen, wo denn die Mitglieder der Ost-CDU oder der Ost-Liberalen, also der vormaligen Blockparteien geblieben sind, derjenigen Parteien also, die in der Volkskammer der DDR die Regierung gestützt haben.
Mit freundlichen Grüßen
Herbert Schui