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Helge Lindh
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Frage von Klaus R. •

Wie sehen Sie die Rolle von Frau Roth bei den antisemitischen Ausfällen der Documenta und sollte Sie zurücktreten?

Sehr geehrter Herr Lindh,

bei Twitter nehmen Sie heute Stellung zu den antisemitischen Bildern auf der Documenta.

https://twitter.com/helgelindh/status/1552568482977431553?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr%5Etweet

Bei der ganzen Geschichte fällt kein gutes Licht auf Frau Roth und man kann erkennen, dass sinngemäß "Eine Krähe der anderen doch ein Auge aushackt", denn niemand der Verantwortlichen sieht sich plötzlich verantwortlich. https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/streit-nach-antisemitismus-skandal-eskaliert-roth-zofft-sich-mit-documenta-chefi-80698814.bild.html

Sollte Ihrer Meinung nach Frau Roth zurücktreten oder der Rücktritt nahegelegt werden?

Viele Grüße

Klaus R.

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr R.,

vielen Dank für Ihre Anfrage zur Documenta fifteen und der damit verbundenen antisemitischen Vorfälle. Es ist unstrittig, dass die Diskussionen und Kontroversen rund um die Documenta fifteen weitreichende Implikationen für die deutsche Kulturlandschaft und unsere gesellschaftliche Debatte über Kunst, Kolonialismus, Antisemitismus und historische Verantwortung haben. Deutschland bleibt sich – das zeigt der Blick auf die Debatte der vergangenen Monate – auch im Wandel treu und beschäftigt sich mit sich selbst, selbst wenn es sich ausdrücklich mit anderen beschäftigen will.

Es gibt einen allgemeinen, sozialarbeiterisch klingenden Allgemeinplatz, der auch in Kassel geäußert wurde: "Wir wollen Betroffene zu Beteiligten machen." In der Praxis wurden jedoch Beteiligte zu Betroffenen gemacht, Unbeteiligte zu Betroffenen und ungewollt Unbeteiligte ebenfalls zu Betroffenen. Wir stehen nun vor der Herausforderung, in einem Klima der weit verbreiteten Unfähigkeit, mit dem Erbe des Antisemitismus und des Rassismus umzugehen, uns klarzumachen, was antisemitische Bildsprache ist und welche Rolle sie in der aktuellen Kunstszene spielt. Im Kontext der Documenta fifteen, kommt eine besondere Brisanz durch die antisemitische Gleichsetzung von Juden mit Faschisten und NS-Tätern hinzu.

Die falsche Dichotomie zwischen dem Kampf gegen Antisemitismus und der Dekolonialisierung, die auf der Documenta offenkundig wurde, hat das Potenzial, uns als aufgeklärte, offene Gesellschaft an eine metaphorische Wand zu fahren. Die Notwendigkeit, Betroffene als Betroffene zu benennen und die Muster zu erkennen, ist dabei entscheidend, um Fehler nicht zu wiederholen. Es gibt Anzeichen, dass ähnliche Vorfälle in der Zukunft folgen könnten, und wir müssen darauf vorbereitet sein.

Die Auswirkungen der Documenta, die eine Weltkunstschau hätte sein sollen, sind tiefgreifend und weitreichend. Das Vertrauen ist gering, das Misstrauen groß. Verschiedene Gruppen fühlen sich beleidigt, machtlos, ausgenutzt. Es scheint, als würde das bekannte Spiel der Verantwortungsverschiebung zwischen Bund, Ländern und Kommunen weitergehen. Die schwierige Frage, die sich in der Aufarbeitung der Documenta fifteen stellt, betrifft jedoch nicht nur Einzelpersonen, sondern unser gesamtes Verständnis von Kunstfreiheit und Verantwortung. Wie gehen wir als Gesellschaft mit Kontroversen um, die durch Kunstwerke hervorgerufen werden? Wer trägt Verantwortung, wenn Kunst antisemitische Tendenzen aufweist oder provoziert? Und wie kann das vermieden werden, ohne die Freiheit der Kunst zu beschneiden?

Antisemitismus, in welcher Form auch immer, ist inakzeptabel. Es ist essenziell, dass dies von allen Beteiligten anerkannt und die Notwendigkeit, dagegen vorzugehen, erkannt wird. Bei der Bewertung der Documenta fifteen ist es wichtig, nicht nur die einzelnen kuratorischen Entscheidungen zu betrachten, sondern auch die strukturellen Bedingungen, unter denen sie getroffen wurden. In diesem Kontext ist zu fragen, wie antisemitische Tendenzen in der Kunst verhindert werden können und welche Präventionsmechanismen in Zukunft installiert werden müssen. 

Es ist offensichtlich, dass es Fehleinschätzungen und Fehler im Umgang mit den problematischen Kunstwerken gegeben hat. Diese müssen analysiert und Konsequenzen gezogen werden. Es bedarf eines breiten Dialogs über die Rolle der Kunst, die Verantwortung von Künstlern, Kuratoren und Institutionen und die Mechanismen, die antisemitische Tendenzen identifizieren und unterbinden können. Es ist klar, dass es hier noch viel Diskussionsbedarf gibt und die Debatten um die Documenta fifteen nur der Anfang eines umfassenden Prozesses der Auseinandersetzung und Reflexion sein können.

Letztendlich geht es jedoch um die Frage, wie wir als Gesellschaft Kunst und Kultur gestalten wollen und wie wir mit den Herausforderungen umgehen, die sich daraus ergeben. Hierbei muss im Vordergrund stehen, dass jede Form von Antisemitismus untragbar ist – dafür müssen wir, auch durch organisatorische Reformen, einen entsprechenden Rahmen gewährleisten.

Mit besten Grüßen

Ihr
Helge Lindh

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