Frage an Gerald Weiß von Engelbert C. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Weiß,
ein Zustand, der nach nun mehr als 40 Jahren nicht mehr nachvollziehbar ist, hat bereits im Jahre 2003 für berechtigten Ärger gesorgt: Eltern von in Deutschland beschäftigten ausländischen Arbeitnehmern werden von den deutschen Krankenkassen beitragsfrei als Familienmitversicherte aufgenommen und in ihrem Heimatland Türkei und auf dem Balkan auf Kosten der deutschen Krankenversicherung ambulant und stationär behandelt. Das Gesundheitsministerium lehnte im Jahr 2003 eine Abschaffung der Ungleichbehandlung von Ausländern und Deutschen ab.
Quellennachweis: http://www.welt.de/print-wams/article131117/Empoerte_Anrufe_im_Ministerium_-_Deutsche_in_Krankenkassen_benachteiligt.html
In keinem anderen Land wird die Großzugigkeit zu Lasten der Beitragszahler/innen derart überzogen. Welche Gesamtsumme wurde von den Gesetzlichen Krankenkassen bis zum Jahre 2006 für den genannten mitversicherten Personenkreis aufgewendet ? Gibt es Bestrebungen, dieses weltweit einmalige Zugeständnis zu Lasten der Beitragszahler/innen per Gesetzesänderung zu stoppen ?
Dankbar für eine Antwort
Engelbert Christmann
Sehr geehrter Herr Christmann,
ich danke Ihnen für Ihr Schreiben. Sie kritisieren darin Regelungen zur Krankenversicherung der im Heimatstaat lebenden Eltern ausländischer Arbeitnehmer. Diese Frage beschäftigt zu Recht viele Bürger.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat diese Angelegenheit bereits im Jahr 2003 aufgegriffen und das Bundesministerium für Gesundheit schriftlich sowie in mehreren Sitzungen des Bundestagsausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung mündlich um eine ausführliche Erläuterung des Sachverhaltes gebeten. Danach stellt sich der von Ihnen angesprochene Themenkomplex wie folgt dar:
Wenn ein ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland gesetzlich krankenversichert ist, wird er ebenso behandelt wie ein deutscher Arbeitnehmer; d. h. er und seine ggf. vorhandenen Familienangehörigen haben die gleichen Leistungsansprüche. Wohnen die Familienangehörigen eines Versicherten im Ausland, kommt ein Leistungsanspruch zulasten der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nur dann in Betracht, wenn für den ausländischen Staat die europäischen Verordnungen über Soziale Sicherheit gelten oder mit diesem ein bilaterales Abkommen über Soziale Sicherheit geschlossen wurde. Diese Regelungen beruhen auf Gegenseitigkeit.
Auf dieser Grundlage erhalten in der Türkei oder im ehemaligen Jugoslawien (Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Serbien und Montenegro) lebende Familienangehörige eines in Deutschland krankenversicherten Arbeitnehmers im Krankheitsfall Leistungen der Krankenversicherung ihres Wohnsitzstaates. Die der Krankenversicherung des Wohnsitzstaates hierdurch entstehenden Kosten sind von der deutschen Krankenversicherung zu erstatten. Rechtsgrundlage dieser Regelung sind im Verhältnis zur Türkei das deutsch-türkische Abkommen vom 30. April 1964 über Soziale Sicherheit und im Verhältnis zu Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien und Montenegro das deutsch-jugoslawische Abkommen vom 12. Oktober 1968 über Soziale Sicherheit. Mit Kroatien und Slowenien sind 1997 entsprechende Nachfolgeabkommen geschlossen worden.
Derartige Regelungen entsprechen der allgemeinen Praxis sowohl des zwischenstaatlichen Sozialversicherungsrechts (hier die bilateralen Sozialversicherungsabkommen) als auch des überstaatlichen Sozialversicherungsrechts (EU-Regelungen über Soziale Sicherheit – VO (EWG) Nr. 1408/71). Sie hat ihren Grund darin, dass die Beiträge der Versicherten in aller Regel nicht nur der Abdeckung des eigenen Krankenversicherungsschutzes dienen, sondern zusätzlich auch der Abdeckung des Schutzes der nicht erwerbstätigen Familienangehörigen.
Um den Verwaltungsaufwand gering zu halten, erfolgt die Erstattung der Kosten durch die deutsche Krankenversicherung mittels kalenderjährlich zu vereinbarender monatlicher Pauschalbeträge pro Familie. Der vereinbarte Monatspauschalbetrag wird je Familie unabhängig von der Zahl der anspruchsberechtigten Familienangehörigen gezahlt. Allerdings berücksichtigen die Pauschalbeträge die durchschnittliche Zahl der in diesen Staaten wohnenden Familienangehörigen und die von ihnen durchschnittlich verursachten Kosten. Damit ist es trotz des pauschalen Abrechnungsverfahrens indirekt von finanzieller Bedeutung, wer nach dem Recht des Wohnsitzstaates zu den mitversicherten Familienangehörigen zählt.
Die Abkommen regeln nur für den Fall der Kostenabrechnung auf der Grundlage von familienbezogenen Monatspauschalbeträgen, dass sich der Kreis der anspruchsberechtigten Familienangehörigen nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates der Familienangehörigen richtet. Zum anspruchsberechtigten Personenkreis gehören im Verhältnis zu den vorgenannten Vertragsstaaten regelmäßig die Ehefrau, sofern sie nicht selbst versichert ist, und die minderjährigen Kinder eines Versicherten. Geschwister eines Versicherten gehören nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis.
Eltern eines Versicherten mit Wohnsitz in der Türkei, Bosnien und Herzegowina oder in Serbien und Montenegro sind nur dann ausnahmsweise anspruchsberechtigt, wenn sie nicht ohnehin leistungsberechtigt nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates aufgrund einer eigenen Versicherung oder der Versicherung einer anderen Person sind und wenn der Versicherte ihnen gegenüber unterhaltsverpflichtet ist. Insofern besteht hier in der Tat eine Ungleichbehandlung gegenüber den in Deutschland lebenden Eltern von GKV-Versicherten.
Allerdings können die Eltern, die die Voraussetzungen für eine Familienversicherung nach deutschem Recht nicht erfüllen, bei einem Besuch in Deutschland keine Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft zulasten der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung in Anspruch nehmen. Es gilt insoweit das deutsche Recht.
Im umgekehrten Fall, wenn z. B. ein deutscher Arbeitnehmer in der türkischen Krankenversicherung versichert ist und seine Familienangehörigen in Deutschland wohnhaft sind, erfolgt kein pauschales Abrechnungsverfahren. Der deutschen Krankenversicherung sind für die Betreuung der Familienangehörigen die im Einzelfall tatsächlich der GKV entstandenen Behandlungskosten von der türkischen Krankenversicherung zu erstatten.
Für das Jahr 1999 belief sich der vereinbarte monatliche Pauschalbetrag für die Betreuung einer Familie in der Türkei auf umgerechnet 17,75 €. Im Vergleich dazu betrugen im Jahre 2001 die durchschnittlichen monatlichen Behandlungskosten für in Deutschland lebende GKV-Mitglieder rund 213 €.
Nach Mitteilung der auf deutscher Seite für den Bereich der Krankenversicherung zuständigen Verbindungsstelle, der Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung-Ausland in Bonn (DVKA), waren durch die deutsche Krankenversicherung im Durchschnitt für das Jahr 1999 für ca. 33.630 Familien pauschale Kostenerstattungen gegenüber der türkischen Krankenversicherung vorzunehmen. Insgesamt wurden der türkischen Krankenversicherung für die Betreuung der bei deutschen Krankenkassen versicherten Familienangehörigen für das Jahr 1999 umgerechnet ca. 7,1 Mio. € erstattet. Gegenüber den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien wurden im letzten Abrechnungszeitraum für insgesamt 19.639 Familien Leistungen im Umfang von umgerechnet rund 3,3 Mio. € erstattet. Welcher Anteil davon auf die Mitversicherung von im Ausland lebenden Eltern, die nach deutschem Recht nicht anspruchsberechtigt wären, entfällt, konnte seitens der Bundesregierung nicht näher beziffert werden. Festzuhalten ist aber, dass die deutsche Krankenversicherung im letzten Abrechnungszeitraum für die Behandlung mitversicherter Familienangehöriger an die Krankenversicherungen in den genannten Staaten insgesamt rund 10,4 Mio. € überwiesen hat; dies entspricht 0,0085 % der Leistungsausgaben der GKV in Höhe von 123,2 Milliarden € im Jahre 1999.
Zwar können die genannten Sozialversicherungsabkommen mit der Türkei und den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien unter Beachtung einer Frist von drei Monaten zum Ende eines Kalenderjahres gekündigt werden. Es wird aber darauf hingewiesen, dass eine solche Maßnahme mit dem Ziel, die Regelungen über die Mitversicherung von im Heimatstaat lebenden Eltern zu ändern, weitreichende Auswirkungen hätte. Im Verhältnis zu diesen Staaten bedeutete dies einen vertragslosen Zustand im Bereich der Sozialen Sicherung, der auch für deutsche Arbeitnehmer wesentliche Nachteile nach sich ziehen könnte.
So würden in diese Staaten von ihren Arbeitgebern vorübergehend entsandte deutsche Arbeitnehmer auch wieder der dortigen Sozialversicherungspflicht unterliegen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer hätten somit doppelte Beitragslasten in Deutschland und im Beschäftigungstaat zu tragen. Weiterhin würde für in diese Staaten entsandte Arbeitnehmer einschließlich ihrer Familienangehörigen sowie für Touristen, die sich vorübergehend in diesen Staaten aufhalten, der Versicherungsschutz der deutschen Kranken- und Unfallversicherung nicht mehr bestehen. Sie würden damit im Falle der Erkrankung nicht mehr aushilfsweise medizinische Leistungen durch den Krankenversicherungsträger am Aufenthaltsort erhalten.
Schließlich sehen die Sozialversicherungsabkommen verschiedene Regelungen im Bereich der Rentenversicherung vor, deren Wegfall für die betroffenen Arbeitnehmer von Nachteil wäre. Dies gilt insbesondere für die Zusammenrechnung von deutschen Versicherungszeiten mit Versicherungszeiten des anderen Vertragsstaats. Sie bietet den betroffenen ausländischen Staatsangehörigen, die auch in Deutschland Rentenbeiträge gezahlt haben, die Möglichkeit, durch die Zahlung einer Rente für ihre deutschen Versicherungszeiten ihren Lebensabend in ihren Heimatstaaten zu verbringen. Umgekehrt erhalten deutsche Arbeitnehmer, die zeitweise im Ausland rentenversichert waren, für diese Zeiten eine Rente von den Rentenversicherungsträgern des jeweiligen Vertragsstaates.
Aus der Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion überwiegen bei einer genauen Abwägung des Sachverhaltes die geschilderten Nachteile, die mit einer kurzfristigen einseitigen Kündigung der Sozialversicherungsabkommen durch die Bundesrepublik Deutschland verbunden wären, die negativen Folgen der kritisierten Regelungen über die Mitversicherung der Eltern ausländischer Arbeitnehmer deutlich. Insbesondere die Ungewissheit über den zukünftigen sozialen Sicherungsschutz im Ausland nach einem ersatzlosen Außerkrafttreten der Abkommen stünde weder unter finanziellen Gesichtspunkten noch unter Gerechtigkeitsaspekten in einem angemessenen Verhältnis zu den Vorteilen einer solchen Maßnahme.
Seitens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wurde deshalb nach einer eingehenden Befassung mit dem Themenkomplex keine kurzfristige Kündigung der von Ihnen zu Recht kritisierten Sozialversicherungsabkommen angestrebt. Wir werden seitens der Fraktion gleichwohl in unserer weiteren parlamentarischen Arbeit gegenüber dem Gesundheitsministerium auf Mittel und Wege dringen, die zu einer alsbaldigen Abänderung der ungerechten Mitversicherungsregelungen führen.
Ich hoffe, dass ich Ihnen mit diesen Informationen weiterhelfen konnte.
Mit freundlichen Grüssen
Gerald Weiß