Gabriela Heinrich, SPD-Bundestagsabgeordnete für Nürnberg-Nord
Gabriela Heinrich
SPD
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Frage von Christian R. •

Frage an Gabriela Heinrich von Christian R. bezüglich Staat und Verwaltung

Sehr geehrte Frau Heinrich!

Bei allem Handeln, auch wenn es dringend und nötig ist. sollte unsere Verfassung im Blick behalten werden sowie alle Auswirkungen, der von Ihnen getroffenen Entscheidungen.

Zu den Corona-Maßnahmen habe ich daher einige dringende Fragen.

1. Es gibt einen Risikobericht des Bundes von 2012, in welchem ziemlich exakt die aktuelle Krise beschrieben wird, sogar mit mutierten Corona-Viren als Auslöser.

Frage: Was wurde seither unternommen? Wieso wurde weiterhin versucht, das Gesundheitswesen profitabel zu machen (Feuerwehr und Polizei müssen schließlich auch keinen Profit erwirtschaften) und wieso wurden nicht ausreichend Schutzausrüstungen in den vergangenen Jahren angeschafft und vorgehalten?

2. Das RKI scheint derzeit die Politik zu bestimmen.

Frage: Werden neben dem RKI auch andere Experten als Entscheidungsgrundlage zu Rate gezogen? Man hat zumindest nicht den Eindruck. Falls doch, welche anderen Experten werden gehört?

Der Chef des RKI, Prof. Wieler, hatte sich immerhin zu Beginn der Krise eine krasse Fehleinschätzung geleistet. Am 22. Januar sagte er in der Tagesschau, dass nur wenige Menschen von anderen Menschen angesteckt werden können“ sowie am gleichen Tag auf 3Sat: : „Insgesamt gehen wir davon aus, dass sich das Virus nicht sehr stark auf der Welt ausbreitet.“ (Quelle: https://www.merkur.de/welt/coronavirus-deutschland-tote-todeszahl-covid-19-rki-robert-koch-institut-zr-13640817.html) Auch jetzt arbeitet es mit Zahlen, die nicht valide sind. Es rät von einer Obduktion der Verstorbenen ab. (Quelle: https://meta.tagesschau.de/id/145479/rki-chef-wieler-zum-coronavirus-die-massnahmen-wirken)-
Wir wissen also nicht, wieviele Menschen tatsächlich dem Corona-Virus zum Opfer fallen.
Was fehlt ist eine Baseline oder Querschnittsstudie.

Frage: Wieso wird eine solche Studie als Entscheidungsgrundlage nicht mit Nachdruck verfolgt?

2. Auch die jetzigen Maßnahmen haben Opfer, wirtschaftliche aber auch medizinische. Ja, es gibt Erkrankte und Tote durch die jetzt bestehenden Maßnahmen.

Frage: Sind die Kollaterlopfer der getroffenen Maßnahmen im Blick?
Frage: Werden diese Opfer evaluiert?
Frage: Um wieviel Prozent haben die Suizide seit der Anordnung der Ausgangsbeschränkung zugenommen, um wieviel Prozent die Todesrate, abzüglich Corona-Fälle? Wie sehr hat die Gewalt zugenommen? Sind die Daten bekannt, wenn nein, wieso werden sie nicht eruiert?

Nicht wenige Mediziner und Psychologen warnen, diese können rasch die Zahl der Corona-Toten übersteigen.
Frage: Wird das ausreichend abgewogen und auch gemessen?

4. Ein Plan, eine Strategie ist derzeit nicht erkennbar. Eine Strategie benötigt nicht nur einen Zweck, sondern ganz konkrete Ziele, die vor allem realistisch erreichbar und meßbar/überprüfbar sein müssen. Vor allem ist dann auch zu überprüfen, ob die eingesetzten Mittel, dienlich sind, um das gesetzte Ziel zu erreichen.

Frage: Welche Strategie wird derzeit verfolgt?

Ich lasse mir eingehen, daß in einem ersten Schritt Notfallmaßnahmen getroffen werden. Dann aber muß eine Strategie entwickelt und kommuniziert werden. Dazu gehört auch eine Exit-Strategie, wie sie Ministerpräsident Laschet als einziger zur Recht anmahnt. Er wird aber ständig niedergebügelt mit dem Hinweis, nun sei nicht der Zeitpunkt für einen Exit. Dabei fordert er gar keinen Zeitpunkt, sondern einen Plan hierfür.

Frage: Ist die Forderung nach einem Plan nicht durchaus berechtigt und muß man nicht genau jetzt planen?

5. Unsere Grundordnung ist innerhalb dieser Krise diversen Übergriffen ausgesetzt.

Frage: Wie ist der vorerst gescheitere Versuch von Jens Spahn zu bewerten, selbst den Gesundheitsnotstand, ohne Einbeziehung des Parlaments, ausrufen zu können und dann quasi Gesetzgebungsbefugnis zu erhalten? Ist dies nicht ein Angriff auf unsere Gewaltenteilung?
Frage: Federstreichartig wurde mit der Neufassung des Infektionssschutzgesetzes der Föderalismus in diesem Bereich ausgehebelt, ist dies ein Verstoß gegen Artikel 20,1 GG?
Frage: Es werden aktuelle Grundrechte eingeschränkt, die nicht im Infektionsschutzgesetz aufgezählt werden. Doch Artikel 19 GG verlangt für solche Beschränkungen eindeutig nicht nur ein Gesetz, sondern die Nennung der jeweiligen Grundrechte mit Namen und Artikel. Wird hier also Artikel 19 GG verletzt?

6. Wir werden derzeit quasi mit Notverordnungen regiert. Dieser Art der Regierung wurden wegen Weimar enge Grenzen gesetzt.
(https://m.tagesspiegel.de/politik/parlament-gibt-kontrolle-aus-der-hand-die-regierung-ermaechtigt-sich-in-der-corona-krise-selbst-zulaessig-ist-das-nicht/25701884.html)

Frage: Sind Grundrechtseinschränkungen - noch dazu in diesem Ausmaß - aus Ihrer Sicht mit der Verfassung vereinbar, wenn Sie nur auf dem Verordnungsweg erfolgen?
Frage: Sind Notverordnungen nicht ausschließlich über Art. 80 GG möglich?
Frage: Haben Sie persönlich dem Infektionsschutzgesetz und damit der Selbstentmachtung des Parlaments zugestimmt bzw. der Ermächtigung der Regierung, Gesetzgebungsbefugnisse auszuüben?

7. Derzeit darf man seinen Hund Gassi führen, spazieren gehen und Lebensmittel einkaufen. Aber es darf auch eine Sendung wie Big Brother fortgeführt werden, bei der fremde Menschen auf engem Raum zusammenleben. Busse und Bahnen fahren, teils mit vermindertem Takt, und die Menschen sind hier auf engem Raum zusammengepfercht, auch dies ist zulässig. Einige Menschen haben Arbeitsverbote, andere nicht und sind auch hier dem Infektionsrisiko ausgesetzt.
Zugleich aber sind beispielsweise Gottesdienste oder Kundgebungen, selbst bei Einhaltung des Mindestabstandes nicht erlaubt. Auch haben Bibliotheken und der Buchhandel zwangsweise geschlossen.

Frage: Finden Sie die geschilderten Widersprüche konsequent?
Frage: Wieso darf man sich zu Gottesdiensten oder Kundgebungen auch dann nicht versammeln, wenn man Sicherheitsabstände einhält?
Frage: Würden Sie der Forderung des PEN-Club zustimmen, Buchhandel und Bibliotheken wieder zu öffnen, da der Zugang zu Büchern in einer Demokratie wesentlich ist?

Da wir in einer Demokratie und keiner Diktatur leben, sind all diese Schritte ausführlich und einleuchtend zu kommunizieren. Dies dürfen wir von Regierung und unseren Abgeordneten, die stellvertretend für uns die Staatsgewalt ausüben, erwarten.

Vorab vielen Dank für die Beantwortung dieser Fragen.

Mit freundlichen Grüßen

Christian Rechholz
Nürnberg

Gabriela Heinrich, SPD-Bundestagsabgeordnete für Nürnberg-Nord
Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Rechholz,

leider kann niemand in die Zukunft schauen und eine weltweite Krise wie die aktuelle exakt vorhersagen und alles für diesen Ernstfall vorbereiten. Risikoanalysen können aber zumindest eine Grundlage für die Arbeit sein, wenn etwas Vergleichbares oder Ähnliches eintritt. Auch die von Ihnen angesprochene Risikoanalyse war keine Vorhersage. Zur Einordnung haben einige Medien diese auch analysiert, da hierzu im Internet leider viele Halbwahrheiten verbreitet werden: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/risikoanalyse-zu-fiktivem-virus-passt-nicht-zu-corona,Rt1wJnT

Ich finde, dass wir in Deutschland – gerade mit unserem Gesundheitssystem – vergleichsweise gut vorbereitet sind. Das betrifft zum Beispiel die hohe Zahl der Intensivbetten, die ja jetzt auch schnell zusätzlich ausgebaut werden. Dabei gilt, dass die stationäre Krankenhausversorgung seit jeher in Deutschland auch durch private Träger erfolgt. Letztere müssen aber in rechtlicher Hinsicht dieselben Voraussetzungen erfüllen und denselben Regeln folgen wie die öffentlichen, sofern sie Teil des staatlichen Systems sind. Private Krankenhäuser kann man kritisieren, aber ob eine solche Grundsatzdebatte in der jetzigen Situation hilfreich ist, ist eine andere Frage. Natürlich zeigt die Krise auch Versäumnisse auf sowie Probleme infolge der Globalisierung – wie zum Beispiel die fehlende Schutzmaskenproduktion in Deutschland und ganz offenkundig auch den Mangel an Desinfektionsmittel und der eigenen Produktionskapazitäten. Zudem hätten wir in der Tat mehr auf Lager haben müssen.

Die Bundesregierung und die Abgeordneten sind keine Virologen und müssen sich daher auf das Fachwissen der Wissenschaft verlassen. Da es hier mit dem Robert-Koch-Institut eine entsprechende Bundesbehörde gibt, plädiere ich sehr dafür, auf dieses Fachwissen zurückzugreifen. Dafür haben wir schließlich das Institut. Es stimmt aber nicht, dass nur diese Behörde gehört würde. Natürlich werden auch andere Wissenschaftler und Institute sowie nicht zuletzt die Erfahrungen aus anderen Staaten berücksichtigt. Ich weiß, dass es im Internet auch zahlreiche Äußerungen gibt, wonach diverse Wissenschaftler ihre Einschätzung zum Beispiel bei Youtube verbreiten. Ein Beispiel dafür ist Herr Bhakdi. Sein Beispiel zeigt, dass nicht alle diese Äußerungen seriös sind. Siehe auch: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coronavirus-faktencheck-bhakdi-100.html

Die Kritik an Professor Wieler teile ich nicht. Zum Zeitpunkt seiner Äußerung über die Ausbreitung gab es noch keinen Corona-Fall außerhalb Asiens und die Hoffnung, dass eine Ausbreitung durch die Maßnahmen in China und andererseits durch konsequente Quarantäne von in anderen Staaten auftauchenden Fällen unterbunden werden kann. Das hat sich als falsch herausgestellt, aber – wie gesagt – niemand ist hellsichtig. Bei den Obduktionen ist das Problem vielschichtig, gemeinsam wird aber ein besserer Datenlage gearbeitet: https://www.saarbruecker-zeitung.de/nachrichten/covid-19-rki-rechnet-mit-dunkelziffer-bei-corona-toten-in-deutschland_aid-49910183 Gleichzeitig investieren wir auch erheblich unter anderem in die Forschung und in die Entwicklung eines Impfstoffs. https://www.bmbf.de/de/corona-krise-achtsamkeit-ja-alarmismus-nein-11069.html

Derzeit geht es mit dem Kontaktverbot darum, eine schnelle Ausbreitung des Virus und damit auch eine Überforderung des Gesundheitssystems – wie sie in anderen Staaten bereits eintrat – zu vermeiden. Dies hilft dabei, die bestmögliche Versorgung für Erkrankte sicherzustellen. Ich kann verstehen, wenn diese Einschränkungen – gerade auch die damit verbundenen Geschäftsschließungen – vielen Menschen Sorgen bereiten. Ich sehe aber keine vernünftige Alternative dazu. Ich sehe auch nicht, wie man eine vernünftige Statistik erstellen könnte, im Sinne „Corona-bedingter Gewalt“. Auch Suizide haben in der Regel mehr als eine Ursache. Klar ist allerdings, dass wir mit den verschiedenen Hilfsmaßnahmen alles in unserer Macht stehende tun, um die Auswirkungen der Krise für den Einzelnen möglichst gering zu halten, die Existenz von Betrieben und eben auch die Arbeitsplätze zu sichern. Eine Übersicht der Hilfsmaßnahmen findet sich hier: https://www.spd.de/aktuelles/corona/

Die Möglichkeit für das Gesundheitsministerium, jetzt zeitweise durch Anordnung oder Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates Maßnahmen zur Grundversorgung mit Arzneimitteln, Medizinprodukten, Labordiagnostik, Hilfsmitteln, Gegenständen der persönlichen Schutzausrüstung und Produkten zur Desinfektion zu treffen, kann in der Tat nur eine Ausnahme bleiben. Allerdings halte ich das in der aktuellen Situation leider für notwendig und habe dieser Regelung daher zugestimmt. Der Bundestag und der Bundesrat haben jedoch jederzeit die Möglichkeit, diese Regelung wieder aufzuheben, wenn solche schnellen Reaktionen nicht mehr erforderlich erscheinen.

Es mag ja sein, dass die bestehende Kontaktsperre auch Lücken offenlässt, allein dadurch, dass ja – richtigerweise – nicht die gesamte Bevölkerung zuhause eingesperrt ist und natürlich jeder auch zum Supermarkt, zum Physiotherapeuten oder zum Arzt gehen kann. Dennoch gilt es, das Risiko der schnellen Ausbreitung des Virus bestmöglich zu verhindern. Bei der Kontaktsperre entscheiden die Bundesländer über die jeweiligen Details der Ausgestaltung, insofern wird die Frage der Bibliotheken und Buchhändler nicht auf Bundesebene entschieden. Hier stehen jetzt die Beratungen von Bund und Ländern für ein möglichst bundesweit einheitliches Vorgehen an und dabei werden auch die Empfehlungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina berücksichtigt werden. Die Empfehlungen sehen eine schrittweise Normalisierung des öffentlichen Lebens vor. Allen Beteiligten ist ja auch klar, dass die Kontaktsperre nicht dauerhaft in Kraft bleiben kann und wir – mit der gebotenen Vorsicht – auch einen Blick auf die Rückkehr zur Normalisierung werfen müssen.

Gegen die Maßnahmen im Zusammenhang mit der Kontaktsperre wurden bereits Klagen eingereicht, die bisher keinen Erfolg hatten. Das Bundesverfassungsgericht hat unter anderem darauf verwiesen, dass die zeitweise Einschränkung der persönlichen Freiheit gegenüber den Gefahren für Leib und Leben weniger schwer wiegen. Ich möchte dazu ergänzen, dass es bei der Kontaktsperre ja nicht nur um das eigene Leben geht, sondern auch um den Schutz anderer Menschen vor einer Ansteckung.

Ich weiß, dass die Partei, der sie angehören, die ÖDP, die Maßnahmen der Bundesregierung teils kritisch sieht. Das ist in einer Demokratie auch ihr gutes Recht.

Mit freundlichen Grüßen
Gabriela Heinrich

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