Frage an Fabio De Masi von Lea R. bezüglich Europapolitik und Europäische Union
Kepler-Gymnasium Freiburg
Johanna-Kohlund-Straße 5
79111 Freiburg
Neigungskurs Gemeinschaftskunde 2012/14
Freiburg, den 20.05.2014
Betreff: Anfrage des Gemeinschaftskunde Neigungskurses
Sehr geehrter Herr De Masi,
laut Wahl-O-Mat sieht die Linke einen europäischen Bundesstaat nicht für hilfreich um die Probleme innerhalb der EU zu lösen. Sehen Sie die EU trotzdem in Zukunft als Bundesstaat, falls Volksabstimmungen über die Verträge gewährleistet sind? Inwieweit würde sich ein europäischer Bundesstaat dann auswirken, würde dieser zu Lösungen von Problemen führen?
Ich möchte mich schon jetzt bei Ihnen für die zeitnahe Beantwortung meiner Frage bedanken.
Lea Rückert
Stellvertretend für den Neigungskurs Gemeinschaftskunde des Kepler Gymnasiums Freiburg
Sehr geehrte Frau Rückert,
Liebe Schülerinnen und Schüler,
vielen Dank für Ihre/Euer Interesse an der Europapolitik der LINKEN. Vorab: Es gibt sicherlich auch in der Linken unterschiedliche Positionen dazu wie weit die europäische Integration gehen sollte. Konsens besteht darin, dass die Europäische Union einen Neustart mit neuen Verträgen braucht, die in allen EU-Mitgliedsstaaten Volksabstimmungen unterworfen werden. EU-Verträge mit denen sich Wohlstand, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden fördern ließe, würden die Akzeptanz für Europa erhöhen.
Ich besitze einen italienischen und einen deutschen Pass und fühle mich als "Europäer": DIE LINKE will jedoch keine EU in der etwa permanent Banken gerettet werden, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um die niedrigsten Löhne konkurrieren, jeder zweite Jugendliche in Athen oder Madrid dauerhaft ohne Job ist, Staaten sich mit den niedrigsten Steuern für Konzerne unterbieten, Freihandelsabkommen wie aktuell mit den USA mit Lobbyisten hinter verschlossenen Türen verhandelt werden und dass Europäische Parlament am Ende nur zustimmen oder ablehnen darf oder eine EU die zur Aufrüstung verpflichtet. Wir wollen ein Parlament, dass eigene Gesetze vorschlagen kann (Initiativrecht) und wir lehnen es ab, wenn etwa kommunales bzw. öffentliches Eigentum wie Wasser- und Stadtwerke über die EU-Kommission dem Zugriff großer Konzerne unterworfen werden, die nur ihre Profite statt eine gute Infrastruktur, faire Preise und hohe Qualität im Sinn haben. Es gibt keinen Grund, dass die EU-Kommisson in das Eigentum der Kommunen rein regiert.
Viele dieser Entwicklungen haben aber direkt mit den EU-Verträgen zu tun (z.B. der Verpflichtung auf Markt und Wettbewerb, dem Vorrang der Binnenmarktfreiheit von Unternehmen vor sozialen Grundrechten und Tariftreue bei öffentlichen Aufträgen oder fehlenden Kompetenzen für Mindeststeuern der Unternehmensbesteuerung wie es DIE LINKE fordert). Selbst eine linke Regierung wäre im Zweifel an die EU-Verträge oder Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes gebunden.
Meine persönliche Haltung zum Thema Bundesstaat ist: Die Europäische Union EU befindet sich in einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise. Die Mehrheit der etwa 500 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger wird die europäische Integration nur unterstützen, wenn die wirtschaftliche und politische Macht von Banken und Konzernen beschnitten wird und die EU ihr einstiges Versprechen von Wohlstand, sozialer Gerechtigkeit und Frieden einlöst. Davon sind wir derzeit weit entfernt, daher hätte ein Bundesstaat keine Akzeptanz.
Ich streite für eine koordinierte Politik in Europa. Entscheidend ist aber mit welchem Ziel: Wenn "mehr Europa" etwa eine Einschränkung von Steuer- und Lohndumping bedeutet, bin ich dafür. Wenn mehr Europa aber etwa die Privatisierung kommunalen Eigentums befördert oder die demokratische Kontrolle durch Parlamente und Öffentlichkeit schwächt, verteidige ich die Demokratie
Bundesstaaten sind historisch gewachsen. Nicht selten durch Bürgerkriege und die Errichtung einer starken Zentralgewalt. Die EU ist ein Staatenverbund bzw. eine Vertragsgemeinschaft in deren Zentrum ein Binnenmarkt bzw. wirtschaftliche sowie sicherheitspolitische Interessen stehen. Dabei verfolgen die nationalen Regierungen nicht selten unterschiedliche Interessen. Dieses Problem würde aber durch einen Bundesstaat nicht zwingend behoben. Auch in einem europäischen Bundesstaat könnten etwa britische Banken oder die deutsche Industrie den Ton angeben, so wie es auch in Nationalstaaten Regionen oder Interessengruppen mit mehr oder weniger Einfluss gibt.
Es fehlt nach wie vor an einer starken demokratischen Öffentlichkeit auf europäischer Ebene. Diese entsteht nicht automatisch mit mehr Kompetenzen für europäische Institutionen. Das Europäische Parlament hat zweifelsfrei an Einfluss gewonnen, aber die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen ist gesunken. Warum nicht auch mal anders an die Sache heran gehen? Stellt Euch vor - statt immer mehr Kompetenzen an Brüssel abzugeben - hätten Abgeordnete anderer nationaler Parlamente das Recht auf Einladung einer Fraktion im Bundestag bei EU-Themen auf die Bundeskanzlerin zu antworten. Dann könnte etwa ein linker Abgeordneter aus Griechenland erläutern, warum wir mit den Euro-Rettungspakten nicht griechische Rentner sondern vor allem Banken gerettet haben, bei denen Griechenland verschuldet war. Das gäbe einmal eine echte europäische Debatte in Deutschland.
Ich empfinde Europa mit seinen vielfältigen Traditionen, Sprachen und Kulturen als eine Bereicherung, und sehe nicht zwingend die Notwendigkeit eines Bundesstaates. Ein europäischer Bundesstaat würde wie ein Nationalstaat auch mit unterschiedlichen Interessengruppen und Konflikten leben müssen, aber der demokratische Einfluss der Bevölkerung wäre unter Umständen erheblich erschwert. Auch zur Bundesrepublik Deutschland gehören etwa Länder und Kommunen. Die föderale Struktur der Bundesrepublik verursacht in bestimmten Bereichen - wie der unterschiedlichen Bildungspolitik - viele Probleme, aber Kommunen mit dezentralen Dienstleistungen und einer starken, deokratischen Selbstverwaltung bringen erhebliche Vorteile.
Es kommt also vor allem darauf an, welche Politik gemacht wird. Eine koordinierte Finanzpolitik, die etwa über den Fiskalpakt (ein Pakt für die Verankerung von "Schuldenbremsen" in den nationalen Verfassungen) weniger öffentliche Investitionen, mehr wirtschaftliche Depression und Sozialabbau erzwingt, wird Europa tiefer in die Krise führen und kann im Extremfall sogar zum Scheitern der EU führen. Der Aufbau von "EU-Battlegroups" und die Aufforderung in den EU--Verträgen, die Rechte von nationalen Parlamenten vorab über Militäreinsätze zu entscheiden (Parlamentsvorbehalt) zu schwächen, kann Frieden gefährden und die öffentliche Debatte über Kriegseinsätze schwächen. Eine koordinierte Politik, die Lohn- und Steuerdumping unterbindet, kann hingegen Wohlstand fördern und die Akzeptanz von Europa erhöhen.
Ein Bundesstaat wie die USA ist nicht per se besser oder bedeutet nicht zwingend mehr europäische Gemeinschaft. Die USA sind etwa nach der Aussage des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter derzeit keine funktionierende Demokratie. Carter bezog diese Aussage auf den Skandal um Geheimdienste wie die NSA: Es ließe sich aber auch an den Einfluss der Wall Street auf die Politik denken, weil die großen und teuren Werbekampagnen der Präsidenten und Parteien von Finanzindustrie und Super-Reichen finanziert werden. Die wirtschaftliche und politische Macht von Finanz-Konzernen in den USA hat auch mit dem gigantischen Markt der USA zu tun.
Eine stärkere europäische Integration macht daher meines Erachtens nur dann Sinn, wenn sie zu mehr Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Wohlstand und Frieden führt. Die geringe Wahlbeteiligung bei den Europawahlen sowie der Aufstieg rechter Parteien in vielen europäischen Mitgliedsstaaten zeigen ja, dass eine Mehrheit der etwa 380 Millionen Wahlberechtigten in der EU mit der politischen Entwicklung zu Recht unzufrieden ist.
Ich streite daher nicht für oder gegen einen europäischen Staat sondern für ein Europa im Interesse der Bevölkerungsmehrheit. Kurzum: Ich will kein "deutsches Europa" sondern ein europäisches Deutschland.
Beste Grüße,
Fabio De Masi