Frage an Edith Sitzmann von Harald S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Sitzmann, 06.03.2012
Umdeutung des Volksentscheids über das Gesetz zur Wahrnehmung von Kündigungsrechten
Vor dem Volksenscheid hat der Ministerpräsident klipp und klar erklärt, dass das Gesetz zur Wahrnehmung von Kündigungsrechten (und nur darüber wurde abgestimmt) nur zustande kommt, wenn alle verfassungsmäßigen Bedingungen erfüllt sind, d. h. auch das Quorum erreicht wird.
Heute sagt der Ministepräsident, der Volksentscheid sei "sozusagen", "gewissermaßen" eine erfolgreiche Abstimmung pro S21 gewesen. Ganz abgesehen davon, dass die Umdeutung einer Abstimmmung zur Finanzierung in eine Abstimmung, ob S21 gebaut werden soll, abwegig ist:
warum soll diese Abstimmung erfolgreich gewesen sein? Schließlich hat sie ja das Quorum nicht erfüllt. Nur 28 % der Wahlberechtigten stimmten mit "Nein" zur Kündigung der Finanzierung, nach Herrn Kretschmanns Lesart also dafür, dass S21 gebaut wird. Für diese angebliche Zustimmung zu S21 fordert Herr Kretschmann aber nicht die Erreichung des Quorums. Dass ein angeblicher Gegner von S21 mit zweierlei Maß misst, finde ich schon bemerkenswert. Der Ministerpräsident stellte an den Erfolg des tatsächlichen Volksentscheids höhere Anforderungen als an den Erfolg des fiktiven (umgedeuteten) Volksentscheids pro S21. Kretschmann stellte den Gegnern von S21 damit höhere Hürden in den Weg als den Befürwortern.
Ganz abgesehen davon, dass es noch viele andere Argumente gegen die Umdeutung des Voksentscheids gibt (viele "Nein"-Sager waren nur gegen die Übernahme der behaupteten 1,5 Mrd. Ausstiegskosten, aber nicht für S21), halte ich die Interpretation des VE als Pro zu S21, auch bei weitester Auslegung des Wahrheitsbegriffs von Frau Arendt, für zutiefst unredlich.
Wollen Sie, Frau Sitzmann, sich weiterhin Herrn Kretschmanns Auslegung des Volksentscheids zu eigen machen?
mit freundlichen Grüßen
Harald Seiz
Sehr geehrter Herr Seiz,
vielen Dank für Ihre Frage bezüglich der Akzeptanz und Deutung der Volksabstimmung. Lassen Sie mich vorab ein paar Anmerkungen zur Fragestellung der Volksabstimmung machen.
Die Fragestellung ergab sich zum einen aus der Landesverfassung und dem Landesrecht und zum anderen aus dem Projekt selbst. Nach den Regelungen unserer Landesverfassung können Gegenstand einer Volksabstimmung nur Gesetzesvorlagen und keine Befragungen sein. Gesetzesvorlagen müssen zudem in die Gesetzgebungskompetenz des Landes fallen. Das Bahnprojekt S 21 ist aber ein Projekt der Deutschen Bahn AG und unterliegt der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Eine Volksabstimmung über das Bahnprojekt S 21 wäre verfassungswidrig gewesen. Anders verhielt es sich bei der finanziellen Beteiligung des Landes am Projekt, da sie in der Zuständigkeit des Landes liegt. Abstimmungsgegenstand war deshalb, und dies ist verfassungsrechtlich zwingend, ausschließlich die Gesetzesvorlage des S 21-Kündigungsgesetzes.
Wie wir alle wissen, hat sich eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gegen das Kündigungsgesetz ausgesprochen. Dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass die gut 58%, die mit Nein gestimmt haben, damit das Projekt eindeutig befürworten. Es bedeutet aber, dass 58% den Status Quo, nämlich, dass Stuttgart 21 wie geplant gebaut wird, auch nicht ändern, sondern am Projekt und dessen Finanzierung festhalten wollten.
Mit freundlichen Grüßen
Edith Sitzmann