Da Russland eine starke Atommacht ist und seit geraumer Zeit vor einem dritten Weltkrieg warnt, ist eine Nato-Erweiterung nach Osten vor diesem Hintergrund nicht leichtsinnig?
Sehr geehrter Herr Bartsch,
soll Deutschland den Nato-Beitritt Finnlands unterstützen, obwohl man sich sogar in den USA darüber bewusst ist, dass schon der pro-westliche Status der Ukraine eine reale "existenzielle Bedrohung für Russland" darstellt?
https://youtu.be/gcj8xN2UDKc?t=393 (auch Minute 9:40)
Warum nimmt man die demzufolge offenbar existenziellen Interessen Russlands nicht ernst, obwohl Russland eine starke Atommacht ist und vor einem dritten Weltkrieg warnt? Ist eine Nato-Erweiterung vor diesem Hintergrund nicht leichtsinnig?
https://www.presstv.ir/Detail/2022/04/26/681013/Russia-warns-of-WWIII-as-west-set-to-supply-arms-to-Ukraine
Warum wird argumentiert, ein Ende östlicher NATO-Ausweitung sei Russland nie versprochen worden, obwohl die Protokolle zahlreicher Garantien gegenüber der sowjetischen Führung dokumentiert sind?
https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-heard-western-leaders-early
Mit freundlichen Grüßen
Sehr geehrter Herr R.,
Finnland und Schweden haben entschieden, dass sie der NATO beitreten möchten. Das sind breit getragene demokratische Entscheidungen von Ländern, die in den vergangenen Jahrzehnten bewusst auf diesen Schritt verzichtet haben.
Sie schreiben von „Leichtsinn“. In den jeweiligen Ländern erscheint hingegen vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine ein Nicht-Beitritt als leichtsinnig. In beiden Ländern ist eine Mehrheit der Bevölkerung der Ansicht, dass a) der Schutz vor Russland notwendig und eine fortgesetzte militärische Neutralität nicht aufrechtzuerhalten ist und b) dass die NATO-Mitgliedschaft diesen bietet. Dagegen lässt sich kaum argumentieren.
Wenn Sie so wollen, hat der russische Präsident die weitere Ausdehnung der NATO mit seinem Krieg vorangetrieben. Denn Finnland und Schweden hätten diesen Schritt ohne den Krieg in der Ukraine gewiss nicht vollzogen.
Kaum überraschend droht Russland infolge der kommenden Erweiterung. Drohungen gegen abweichende Meinungen im Inland und Drohungen gegen „den Westen“ sind zum Kernelement der russischen Führung geworden. Ich nehme das nicht auf die leichte Schulter. Sie schreiben mit Recht, dass Russland eine Atommacht ist. Andererseits dürfen weder diffuse noch inakzeptable Drohungen den politischen Kurs von Demokratien bestimmen. Das wäre eine Form der Selbstaufgabe, die uns irreparablen Schaden zuführen würde und dem russischen Vorgehen Legitimation verleihen würde.
Ich würde mich ungern in eine historische Debatte begeben. Das russische Narrativ ist zweifelsohne das eines Landes, das zunehmend eine Nähe der NATO verspürt und daraus ein Bedrohungszenario abgeleitet hat. Das hat auch eine innenpolitische Dimension. Autokratien brauchen das Narrativ des „Opfers“, das sich lediglich verteidigt.
Keine Frage: Die Osterweiterung der NATO darf und muss historisch debattiert werden. In der Tat gibt es Dokumente und Zitate, die belegen, dass eine Erweiterung der NATO um ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes (abzüglich der DDR) nicht vollzogen werden sollte. Anderseits sind zentrale Verhandlungen zu einem Zeitpunkt erfolgt, als die Sowjetunion noch existierte. Deshalb leiten andere (auch Teilnehmer) daraus ab, dass es derartige Zusicherungen nicht gegeben haben kann.
Eine Bündnisentscheidung legitimiert trotzdem keinen Angriffskrieg. Wir brauchen dringend Lösungen für die Zukunft. Die Schlüsselworte lauten Verhandlungen und Diplomatie. Im Übrigen würde beides glaubwürdiger und zielführender, wenn Russland zunächst seine Bombardements einstellen und seine Soldaten in die eigenen Grenzen abziehen würde. Ansonsten besteht aus ukrainischer Sicht durchaus die Gefahr einer Zementierung des Status quo, der für die Ukraine kaum akzeptabel wäre, weil er Integrität und Souveränität untergräbt.
Eine (erneute) Welt der Aufrüstung und Blockkonfrontation ist leider möglich und z.T. greifbar. Erstrebenswert ist sie nicht. Deshalb sind Initiativen und Schritte notwendig, die versuchen, dies abzuwenden.
Freundliche Grüße
Dr. Dietmar Bartsch