Gibt es Chauvinismus in der Ukraine?
Sehr geehrte Frau Kopf, der Kanzlerkandidat Ihrer Partei hat heute in einer recht beachtlichen Rede die EU als Friedensprojekt bezeichnet, die den Chauvinismus in Europa überwunden habe. Nun gibt es aktuell in Europa erneut Krieg, wenn auch außerhalb der EU. Wie erfolgreich ist das Projekt dann? Hat es eventuell die Sicherheitsinteressen seiner Nachbarn, etwa Russlands, nicht hinreichend beachtet? Und für wie überwunden halten Sie den Chauvinismus in Europa, wenn in einem Beitrittsland Bürgerwehren als Sprachpatroulien das Sprechen einer europäischen Kultursprache (Tolstoi, Dostojewski, Nobelpreisträger A. Solschynizin) verhindern sollen? (https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-sprachpatrouillen-sollen-gegen-russisch-vorgehen-a-b82d02a5-d72c-43a1-b050-d19f714ab9ae?sara_ref=re-xx-cp-sh) Was tun die Grünen Poltiker, um die Rechte von Minderheiten in der Ukraine zu stärken und deren Situation zu verbessern? Glauben Sie an dauerhaften Frieden in Europa ohne oder gar gegen Russland?

Sehr geehrter Herr G.,
vielen Dank für Ihre Frage. Die Europäische Union ist Garantin für unseren Frieden, unseren Wohlstand und unsere Sicherheit und historisch gesehen das erfolgreichste Friedens- und Freiheitsprojekt. Nach Jahrhunderten von Kriegen auf unserem Kontinent schufen europäische Staaten eine Gemeinschaft, die auf Zusammenarbeit, Demokratie und Menschenrechten basiert und Krieg und Gewalt unter den Nationen Europas undenkbar machen sollte. Durch wirtschaftliche und politische Integration wurden Grenzen überwunden und nationale Egoismen durch Solidarität ersetzt. Diese gemeinsamen Ziele und Werte sind für die heute 27 EU-Mitgliedstaaten das Fundament für ein gutes Leben und machen die EU auch jenseits ihrer Grenzen so attraktiv.
Für die europäische Friedensordnung bedeutet der russische Angriffskrieg auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 eine Zäsur. Er hat uns unsere Verantwortung zur Verteidigung von Demokratie, Freiheit und Frieden in Europa deutlich vor Augen geführt. Der russische Krieg gegen die Ukraine wird auch im Cyber- und Informationsraum und damit vor allem in den Sozialen Medien geführt. Es ist daher wichtig, die Desinformationskampagnen Putins aufzudecken und ihnen mit Fakten zu begegnen. Eine weit verbreitete Erzählung Russlands besteht darin, dass die NATO-Osterweiterung die Sicherheitsinteressen Russlands berührt und den Krieg provoziert habe. Gemäß internationalen Verträgen (OSZE, NATO-Russland-Grundakte), denen sich Russland freiwillig angeschlossen hat und an die es sich jahrelang gebunden fühlte, besteht ein Recht auf freie Bündniswahl – also der Wahl, ob und mit welchen Staaten sich ein Staat zusammenschließt, um seine Sicherheit zu erhöhen. Auch Putin hat der NATO-Erweiterung früher zugestimmt. Er sagte 2005 selbst, dass jedes Land ein Recht auf freie Bündniswahl habe und von der NATO für Russland keine Gefahr ausginge. Da waren Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, die baltischen Staaten, Bulgarien, Rumänien und Slowenien bereits NATO-Mitglied. Die NATO-Staaten haben in den vergangenen Jahren kontinuierlich abgerüstet und die Wehrpflichten teilweise abgeschafft. Das allein zeigt, dass die NATO und die EU keinerlei Interesse an Offensiven gegen Russland hegten. Und die Ukraine hat mit dem Budapester Memorandum 1994 sogar auf Atomwaffen verzichtet und diese an Russland abgegeben, im Gegenzug wurde ihr von Russland ihre Souveränität zugesichert.
Im Dezember 2023 hat der Europäische Rat die historische Entscheidung getroffen, mit der Ukraine Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Voraussetzung dafür ist die Erfüllung einer Reihe von verbindlichen Kriterien. Von der Ukraine als künftigem Mitgliedstaat wird erwartet, dass sie sich die Werte zu eigen macht, die in Artikel 2 des Vertrags über die EU aufgeführt sind: Die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Darüber hinaus ist die Nichtdiskriminierung von Minderheiten ein gemeinsamer Wert, auf dem die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine entsprechend ihrem Assoziierungsabkommen beruhen. Ich bin überzeugt, dass die Ukraine diesen Reformweg weiterhin mit großer Ambition gehen wird. Sie kann sich dabei unserer Unterstützung sicher sein. Für mich als Grüne steht fest: die Verteidigung der Freiheit Europas ist die wahrscheinlich wichtigste Aufgabe der nächsten Jahre - dafür braucht es ein geeint handelndes, starkes Europa, für das wir Grüne uns sowohl im Bundestag als auch im Europäischen Parlament mit aller Überzeugung einsetzen.
Mit freundlichen Grüßen
Chantal Kopf