Frage an Carsten Müller von Heiko H. bezüglich Wirtschaft
Sehr geehrter Herr Müller,
das Auto wird immer als Grundstein unseres Wohlstandes in Deutschland und Europa gehuldigt. Dabei haben vor einigen Jahren sehr viele Menschen in der umfangreichen Branche der Erneuerbaren Energien (inkl. alternative Antriebe) gearbeitet und die Zahl der Arbeitsplätze wuchs deutlich schneller als in der fossilen Autoindustrie! Als diese Zahlen bekannt wurden, haben die schwarz/gelbe und dann die große Koalition einen großen Teil der Arbeitsplätze mit vielen ineinander greifenden Maßnahmen vernichtet.
Bruttobeschäftigung EE 2009: 357.900; 2010: 391.900; 2011: 416.600; 2017: 316.500, Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 12.6.2019, https://www.erneuerbare-energien.de/EE/Redaktion/DE/Downloads/zeitreihe-der-beschaeftigungszahlen-seit-2000.pdf?__blob=publicationFile&v=2
Vergleiche Süddeutsche Zeitung, Das Auto als Jobmotor, 4.7.2011: 718.000 Beschäftigte, 13.000 mehr als im Vorjahreszeitraum, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/absatzzahlen-steigen-das-auto-als-jobmotor-1.1116033
Jetzt fordert die Autobranche dreist eine Kaufprämie für Produkte mit altertümlichen Verbrennungsmotoren, die uns als Innovationen angedreht werden. Jeder Unternehmer muss eigentlich in schlechten Zeiten Gewinne aus guten Zeiten investieren. Ich habe die Schlagzeilen von VW "9 Milliarden Gewinn" noch vor Augen. Das war in ähnlicher Höhe viele Jahre so - wo sind die Gewinne? Ist nur das Land Niedersachsen als VW-Anteilseigner für die Nachschusspflicht in der aktuellen schlechten Zeit verantwortlich? Und müssen wirklich alle Steuerzahlenden, wie Kassierer*innen, Pflegekräfte und andere schlecht bezahlte Arbeitnehmer*innen, die sich einen Neuwagen gar nicht leisten können, die gut bezahlten Bandarbeiter und maßlos überzahlten Manager und gewinnmaximierende Eigentümer unterstützen?
Wenn man aufstrebende Branchen politisch ausbremst, die ihre Gestehungskosten von Jahr zu Jahr drastisch senken (und der Förderbedarf so immer weiter gesenkt wird) und fossile Branchen bei jedem Ruf der Lobby mit Subventionen vollgepumpt werden, ist es kein Wunder, dass unser altbackenes Freiheitssymbol Auto Konjunkturmotor bleibt (und die politisch extremen Flügel immer lauter werden). Dabei ist der für dieses umweltschädliche Produkt "Verbrenner-Motor" notwendige Brennstoff, den wir in Deutschland gar nicht haben, Ursache für weltweite Ungerechtigkeiten und für großes Leid durch zahlreiche Kriege. KEIN KRIEG FÜR ÖL! Keine Kaufprämie für umweltschädliche Produkte! Stattdessen
#MobilPrämieFürAlle
(siehe https://www.adfc.de/neuigkeit/mobilpraemiefueralle/) ... dieses Konjunkturpaket würde ein vielschichtiges Mobilitätskonzept und massenhaft Produkt-Innovationen vorantreiben und vielen Menschen in der Breite des Mobilitätsmarktes Auftrieb geben!
Was sagen Sie dazu?
Ich freue mich auf Ihre Antwort, hoffe auf Ihren Mut zu notwendigen Veränderungen und wünsche Ihnen ein gutes Händchen und viel saubere Energie für die richtigen Entscheidungen in dieser außergewöhnlichen Zeit!
Mit sonnigen Grüßen,
H. H.
Sehr geehrter Herr Hilmer,
vielen Dank für Ihre Anfrage vom 1. Juni 2020 zu den Branchen Automobilindustrie und Erneuerbare Energien.
Ganz so einfach, wie Sie es darstellen, sehe ich die Situation nicht. Auch teile ich Ihre Vermutungen zu Verbrennungsmotoren nicht. Sie sind nicht per se schlecht. Anstelle von Ideologie setze ich auf einen Mix von effizienten, innovativen Technologien. Ein einfaches Beispiel: Ein moderner Verbrennungsmotor, der die Euro 6d-TEMP-Norm erfüllt, stößt über die Abgasanlage sauberere Luft aus, als er sie für den Verbrennungsprozess aus der Umgebung eingesaugt hat. Wird er dann noch mit innovativen Kraftstoffen betrieben, sehe ich keinen Grund, das Konzept der Verbrennungsmotoren zu verteufeln. Innovationen bringen Fortschritt nicht ein starres Weltbild. Ebenso sehe ich in dem von Ihnen geteilten Mobilitätskonzept mit ÖPNV, Fahrrad und Elektroantrieb nur ein Teil der Lösung. Im urbanen Mobilitätskonzept kommen diesen Komponenten sicher eine größere Bedeutung als gegenwärtig zu. Aber dennoch sehe ich sie nicht ausschließlich. Weiterhin werden Menschen auf das Auto zurückgreifen wollen und im Güter- und Transportsektor sowie außerhalb der Städte sogar müssen. Wie Sie selbst wissen, ist man außerhalb der urbanen Ballungsräume auf ein Kfz angewiesen. In den ländlichen Regionen wird es eben keinen ÖPNV geben können, der mit engem Takt alle Dörfer und Siedlungen bedient. In diesen Regionen kann man von den Bewohnerinnen und Bewohner auch nicht verlangen, mal eben mit dem Fahrrad oder Lastenrad zu fahren. Aufgrund des hohen Anschaffungspreises und der derzeit eingeschränkten Akkunutzbarkeiten sehe ich die rein elektrischen Kraftfahrzeuge weder im täglichen Einsatz im ländlichen Raum noch im Güter- und Transportverkehr. Hier sind wir noch immer auf den Verbrennungsmotor angewiesen. Ganze Verkehrsbereiche oder Regionen auszugrenzen, ist der falsche Weg. Wichtig ist aus meiner Sicht ein Wettbewerb der Technologien in einem Technologiemix, der unterschiedliche, anwendungsspezifische Antriebslösungen mit Brennstoffzellen, batteriebetriebener Elektromobilität und regenerativen Kraftstoffen ermöglicht.
Wenn Sie in diesem Kontext ein weiteres vermeintliches Argument gegen Verbrenner anführen und von den nicht vorhandenen Brennstoffen die „wir in Deutschland gar nicht haben“ schreiben, verkennen Sie, dass die Rohstoffe für Akkus und Magnete der E-Motoren auch nicht aus Deutschland und Europa stammen. Auch hier sind Fakten generell hilfreicher als Parolen. Allein das Thema Seltene Erden und die Bedingungen rund um deren Gewinnung und Verteilung würde hier den Rahmen sprengen.
Das Mobilitätsthema hat zudem in der Coronakrise einen neuen Stellenwert bekommen. Ganz besonders die letzten Wochen haben die hohe Bedeutung der individuellen Mobilität für die Menschen noch einmal unterstrichen. Es wurde eben auch eindrücklich bewiesen, dass das Auto weit entfernt ist vom „altbackene[n] Freiheitssymbol“. Die Menschen legen viel Wert auf individuelle Mobilität und die unterschiedlichsten Konzepte diese auszuleben – von Scootern, über Fahrräder und Motorräder bis hin zum eigenen Kfz.
Ihre Kritik an einigen Unternehmensleitungen der Automobilindustrie teile ich, denn scheinbar haben einige Entscheider noch immer nicht erkannt, dass sie mit ihrem Auftreten und ihren Entscheidungen für ein enormes gesellschaftliches Akzeptanzproblem gesorgt haben. Beispielsweise der Betrug mit der Abgasreinigung oder der Ruf nach staatlichen Hilfen bei Gleichzeitiger Auszahlung von Managerboni passt schlichtweg nicht zusammen. Aber: Für das Fehlverhalten einiger Manager darf man nicht alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Automobil- und Zulieferindustrie sowie ihre Familien in Haftung nehmen. Ebenso halte ich den Abgesang auf die Automobilindustrie für falsch und fahrlässig. Die Automobilindustrie ist nicht nur einer der Pfeiler unseres heutigen Wohlstandes, sondern nach wie vor Weltmarktführer und von zentraler Bedeutung für unsere Wertschöpfung. Und nicht nur für uns, sondern auch in vielen anderen europäischen Staaten, wie Polen, Tschechien, Ungarn oder der Slowakei, hängt der Wohlstand maßgeblich von der deutschen Automobilindustrie ab.
Ganz offen: Absolut hanebüchen finde ich Ihre Annahme einer gezielten Aktion einer von der Lobby-gelenkten Politik zur Arbeitsplatzvernichtung im Bereich der Erneuerbaren Energien, weil absolute Stellenaufwüchse in dieser Branche die Beschäftigtenzahlen der Automobilindustrie überholten. Das ist weder wirtschaftliche noch politische Realität. Tatsache ist, dass der Arbeitsplatzabbau in der Erneuerbaren Energien-Branche mehrere Gründe hatte. Beispielsweise wurden infolge des großen Wettbewerbsdrucks in der Photovoltaikindustrie, insbesondere durch die günstigen PV-Panels aus der VR China, viele Produktionsstätten in Deutschland geschlossen. Gleichzeitig unterschlagen Sie in Ihrer Arbeitsplatzvernichtungstheorie – über die Gründe will ich nicht spekulieren – die enorm positive Arbeitsplatz- und Wirtschaftsentwicklung im Energieeffizienzbereich. Diese innovative Branche ist nicht nur führend auf dem Weltmarkt, sondern beschäftigt mittlerweile über 600.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. Sie sehen, allein diese zwei Fakten widerlegen Ihre These völlig.
Sehr geehrter H. H., an einem sachlichen Diskurs ohne ideologische Schranken und Parolen ist mir sehr gelegen. Sehr gern können wir uns entsprechend austauschen. Zunächst hoffe ich, Ihnen mit meinen Informationen geholfen zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Carsten Müller